Todesinstinkt
davonjagte. Den Flüchtenden folgten wütende Schreie von Erwachsenen, dann Getrampel und Schläge.
C olette wollte bei Hans Grubers Adresse aussteigen.
Younger wies darauf hin, dass sie wegen der Verspätung des Zugs, der schon am Abend zuvor hätte eintreffen sollen, Gefahr liefen, ihre Verabredung mit Freud zu versäumen.
»Können Sie den Kutscher fragen, wie weit es noch bis zu Freuds Haus ist? Vielleicht ist es ganz nah.«
Das war nicht der Fall, und Colette gab nach. Nachdem sie sich enttäuscht zurückgelehnt hatte, sprach sie der Kutscher in ausgezeichnetem Französisch an. »Verzeihen Sie
mir die Kühnheit meiner Frage, Mademoiselle, aber erstreckt sich der Hass Frankreichs auf die Deutschen auch auf die Wiener?«
»Nein«, antwortete sie. »Wir wissen, dass Sie hier genauso gelitten haben.«
»Wir haben unsere Schwierigkeiten«, bekannte der Mann. »Ist Ihnen beispielsweise das Verstörende an den Hunden in Wien aufgefallen, Monsieur?«
»Ich habe keine Hunde gesehen«, erwiderte Younger.
»Das ist ja das Verstörende. Die Leute essen ihre Hunde. Und bestimmt haben Sie schon von der Weinkrankheit gehört. Ohne jeden Grund brechen die Menschen in Tränen aus – Männer und Frauen. Sie fangen an zu weinen, und dann können sie nicht mehr aufhören. Sie schluchzen im Schlaf, und es geht so lange, bis sie einen epileptischen Anfall bekommen. Nach dem Aufwachen können sie sich an nichts mehr erinnern. Das sind die Nerven. Wir waren schon immer nervös, wir Wiener – vergnügt, aber nervös.«
Colette machte ihm ein Kompliment zu seinem Französisch.
»Mademoiselle sind ebenso großzügig wie bezaubernd«, erwiderte der Wagenlenker. »Ich hatte als Junge eine Gouvernante aus Paris. Hier meine Karte. Wenn Sie wieder einmal eine Kutsche benötigen, würde es mich freuen, Sie fahren zu dürfen.«
In vornehmer Schrift stand auf der Karte der Name Oktavian Ferdinand Graf Kinsky von Wchinitz und Tettau.
»Sie sind also von Adel?«, fragte Younger.
»Ja, ein glücklicher Graf, wenn Sie so wollen. Ich konnte mir meinen allerletzten Wagen bewahren und mir so einen Lebensunterhalt sichern. Ein mit mir befreundeter Baron
putzt den Boden in einem Restaurant. Und sehen Sie meine Livree.«
Zum ersten Mal fiel Younger die ehemals würdevolle, aber inzwischen fadenscheinige Uniform auf.
»Sie hat einem meiner Diener gehört. Auch da hatte ich Glück: Ich hatte einen Lakaien, der so klein und rund war wie sein Herr. So, da wären wir – das Hotel Bristol.«
A ber das ... das ist doch viel zu prachtvoll«, rief Colette beim Anblick ihres Zimmers. Lucs Interesse galt einem weiß gedeckten Tisch und einem Silbertablett mit einem Berg von Gebäck und zwei dampfenden Kannen, die eine mit Kaffee, die andere mit heißer Schokolade. Er war nicht am Verhungern wie manche Kinder in Wien, aber auch nicht allzu weit davon entfernt. »In meinem ganzen Leben war ich noch nie in so einem Zimmer«, fügte seine Schwester hinzu.
»Und sie verlangen drei englische Pennys dafür«, antwortete Younger. »Der reinste Wucher.«
E ine knappe Stunde später gelangten sie zu einem schmucken, recht komfortabel wirkenden Wohnhaus an der Berggasse — eine enge Straße mit Kopfsteinpflaster, die sich sanft zum Donaukanal absenkte. Ein Dienstmädchen bat Younger und Colette in Sigmund Freuds leeres Behandlungszimmer. »Ich bin so nervös«, wisperte Colette.
Younger nickte. Er konnte Colettes Aufregung gut verstehen. Schließlich hoffte sie so sehr, dass Dr. Freud ihrem Bruder helfen konnte, und war sicher ängstlich darauf bedacht, einen guten Eindruck auf den weltberühmten Psychologen zu machen. Dabei war nicht sie diejenige, die ihn enttäuscht hatte.
Freuds Behandlungszimmer war wie ein Bad, in das man die ganze Zivilisation geschüttet hatte. Lederbände säumten die Wände, und jeder Zentimeter, den die Bücher nicht beanspruchten, war mit Antiquitäten und Miniaturskulpturen besetzt: griechische Vasen zwischen chinesischen Terrakottafiguren, römische Intaglien neben südamerikanischen Statuetten und ägyptischen Bronzen. Der Raum war erfüllt mit einem reichen Zigarrenaroma und dem tiefen Rot von Orientteppichen, die nicht nur dick auf dem Parkettboden lagen, sondern sich auch über Beistelltische und eine lange Couch spannten.
Eine Tür öffnete sich. Kläffend trippelte ein winziger Chow-Chow herein. Dem Hündchen folgte Freud, der in der Tür stehen blieb und das Haustier aufforderte, sich von Youngers und
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