Todesinstinkt
Gott den Grippetod von Hunderttausenden Kindern vorzuwerfen. Das ist doch nicht seine Schuld.«
»Nein, ist es nicht.« Sie wandte sich ab und fuhr mit brüchiger Stimme fort. »Sie haben mir Luc weggenommen und ihn in eine Schule für schwer erziehbare Kinder gesteckt. Er hat bei mir im Keller des Instituts gelebt. Madame lässt mich dort wohnen, bis ich meine Stelle habe. Die Räume sind wirklich komfortabel. Es gibt Toiletten, Bücher und Kochplatten. Aber irgendjemand hat es den Behörden gemeldet.«
»Idioten«, knurrte Younger. »Schwer erziehbar — was soll das überhaupt heißen?«
»Die anderen Kinder sind Diebe und Schwachsinnige. Es ist ein Verbrechen. Luc lernt nichts und wird nicht behandelt.«
»Er braucht keine Behandlung. Er muss nur leben.«
»Woher wollen Sie das wissen? Sind Sie Psychologe?«
Er antwortete nicht.
»Sie hätten ihm zur besten Behandlung der Welt verhelfen können. Wissen Sie noch, dass er manchmal kleine Mitteilungen geschrieben hat? Nicht einmal das tut er mehr. Seit zwei Monaten hat er sich mit niemandem mehr verständigt.« Sie schnaubte, doch es klang wie ein unterdrücktes Schluchzen. »Ach, warum erzähle ich Ihnen das überhaupt? Warum bin ich hier? Ich hasse dieses Land. Ich muss los, mein Zug fährt bald.«
Sie lief davon.
E igentlich rechnete er damit, sie schon in der nächsten Woche erneut zu treffen. Nach zehn Tagen ging er zur Vermisstenstelle, um sich nach ihr zu erkundigen. Sie war nicht wieder aufgetaucht. Younger zündete sich eine Zigarette an und starrte hinauf in den ewig grauen Himmel Bitburgs.
A ls er im Frühjahr endlich aus der Armee entlassen wurde, nahm er den Zug nach Paris. Im Radiuminstitut fragte er nach Mademoiselle Rousseau. Er erfuhr, dass Colette gerade nicht im Haus war, aber in Kürze erscheinen würde. Er wartete draußen.
Die Straßen von Paris waren bewundernswert. Immer ein Baum am rechten Ort. Die Gebäude stattlich und einladend, aber nie zu groß. Der Geruch von sauberem Wasser auf dem Asphalt. Er fragte sich, ob er vielleicht herziehen sollte.
Colette hatte bereits die Hälfte der Stufen hinter sich gebracht, als sie ihn erkannte. Überrascht blieb sie stehen, und über ihr Gesicht zog ein strahlendes Lächeln, das gleich wieder verschwand. Sie war noch dünner als vor ein paar Monaten. Ihre Wangen zeigten einen hübschen Anflug von Rot, aber der Grund dafür war wohl eher Hunger, wie er befürchtete.
»Wollen Sie nicht eintreten?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. Also machten sie stattdessen einen Spaziergang. »Haben Sie Ihren Hans Gruber gefunden?«
»Noch nicht.«
»Sie sind nach Bitburg zurückgefahren?«
»Nein, aber ich habe es vor.«
»Weil Sie nicht genug Geld für den Zug hatten. Haben Sie wenigstens zu essen?«
»In zehn Tagen kommt alles in Ordnung. Da fängt meine Arbeit an. Im Moment muss ich alles für Luc sparen. Die Verpflegung in der Schule ist nicht ausreichend. Sehe ich schlimm aus?«
»Hinreißender als je zuvor«, erwiderte Younger. »Falls das überhaupt möglich ist. Ich habe Ihren Soldaten aufgespürt.
Hans war Österreicher. Nach Kriegsausbruch hat er sich bei den Deutschen freiwillig gemeldet. Man hat mir eine Adresse in Wien gegeben. Hier.« Er reichte ihr einen Zettel.
Sie starrte darauf. »Danke.«
»Wie geht es Luc?«
»Schrecklich.«
»Darf er auch mal hinaus?«
»Natürlich. Ende der Woche macht die Schule sogar Ferien. Wie lange sind Sie in Paris? Er würde sich bestimmt freuen, Sie zu sehen.«
»Ich reise am Freitag ab.«
»Oh.« Sie stockte. »Sie sollten unbedingt das Institut besuchen. Es sind auch amerikanische Soldaten da, die Madame Curies Radiografietechniken erlernen.«
»Ich weiß. Deswegen setze ich keinen Fuß in das Gebäude. Fürs Erste habe ich genug vom Militär.«
»Aber ich könnte Sie Madame vorstellen.«
»Nein.« Sie waren zu einer Ecke gelangt, an der Straßenbahnen vorbeipolterten. »Nun, Miss Rousseau, dann möchte ich Sie nicht länger aufhalten.«
Sie blickte ihm in die Augen. »Warum sind Sie überhaupt gekommen?«
»Ach, das hätte ich fast vergessen. Das wollte ich Ihnen auch noch geben.«
Er reichte ihr einen Umschlag, der ein kurzes Telegramm enthielt. Darin stand:
NEHME JUNGEN MIT VERGNÜGEN ALS PATIENTEN AN. SCHWESTER SOLL MICH NACH ANKUNFT IN WIEN SOFORT AUFSUCHEN.
FREUD
Sie war sprachlos.
»Da schlagen Sie gleich zwei Fliegen mit einer Klappe«, erklärte Younger. »Sie können Luc zu Freud bringen und der Familie Ihres
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