Todesinstinkt
ein Experiment durch? Nein – Monsieur räumte nur sein Labor auf und vergaß, wo er sein Uran hingetan hatte!«
Colette wartete auf Lachen. Es blieb aus.
»Doch als er die fotografische Platte auspackte, fand er ein Bild darauf – was eigentlich unmöglich war, weil kein Licht an die Platte gedrungen war. Damit war das Rätsel der atomaren Strahlung entdeckt, und zwar rein zufällig! Zwei Jahre später, 1898, lösten Marie Curie und ihr Mann Pierre dieses Rätsel. Madame Curie bewies, dass die Uranatome unsichtbare Strahlen aussenden, und sie prägte einen Begriff für dieses Phänomen: Radioaktivität. In unermüdlicher, abgeschiedener Arbeit entdeckte Madame Curie zwei neue, der Menschheit bis dahin unbekannte Elemente. Das erste nannte sie Polonium nach ihrer Heimat Polen; das zweite und bei weitem stärkere Radium. Die potenzielle Energie von Radium ist so groß, dass sie sich mit normalen Maßstäben fast gar nicht beschreiben lässt. Kennen Sie die Pferdestärke? Nun, ein einziges Gramm Radium enthält eine Kraft, die der von achtzigtausend Millionen Pferden entspricht.«
Wieder legte Colette eine Pause ein, da sie angesichts dieser Zahl ein erstauntes Ächzen erwartete. Doch sie hörte nur das Rascheln von Röcken und Handschuhen.
Verunsichert fuhr Colette in zu raschem Tempo fort. »Diese Energie würde reichen, um jedes Gebäude in New York mit einer einzigen gewaltigen Explosion zu zerstören. Aber die Wissenschaft hat einen Weg gefunden, um die Radioaktivität nutzbar zu machen für die Rettung von
Menschenleben. Heute führen Ärzte winzige, in Glas verschlossene Mengen Radium direkt in den Tumor eines Krebspatienten ein. Und schon nach wenigen Wochen ist der Tumor verschwunden. Überall auf der Welt erfreuen sich Menschen dank Radium bester Gesundheit, die noch vor wenigen Jahren an Krebs gestorben wären.« Dies war endlich eine Aussage, die das Publikum gern mit Beifall bedacht hätte, aber in ihrer wachsenden Nervosität redete Colette einfach weiter. »Und nun möchte ich Ihnen eines der außerordentlichen Nebenprodukte der Radioaktivität vorführen: die Lumineszenz.«
»Ach, mein Kind«, unterbrach Mrs. Meloney sie. »Sie wollen in der Kirche ein Experiment machen? Halten Sie das denn für passend?«
»Es ist nur eine kleine Demonstration«, beschwichtigte Colette.
»Na schön. Aber lassen Sie uns bitte nicht zu lange demonstrieren.«
Mit zwei Fläschchen aus dem Koffer stand Colette ein wenig hilflos vor dem Pult. Ihr fehlte ein Tisch. Colette musste die beiden Präparate mischen. Nervös lächelnd kniete sie sich schließlich auf den Boden und stellte ihr Material ab. So konnte sie mit beiden Händen arbeiten. Dummerweise wurde sie dadurch für ihr Publikum unsichtbar.
Plötzlich jedoch wurde laut geklatscht, und Colette blickte verblüfft auf. Die Aufmerksamkeit der Damen richtete sich auf den fülligen Herrn hinter ihr, der mit jovialem Strahlen beide Fäuste hochgerissen hatte. An beiden Händen baumelte eine Armbanduhr, von der ein grünliches Leuchten ausging.
»Hier haben Sie Ihre Lumineszenz, Miss Rousseau«, verkündete der Herr. »Das ist die Magie von Radium.«
Wieder ertönte Beifall.
»Vielen Dank, Sir«, rief Mrs. Meloney, »Sie kommen als Retter in der Not. Und vielen Dank auch Ihnen, Miss Rousseau, für Ihren überaus lehrreichen Vortrag.«
»Aber ich ...«, stotterte Colette, die gerade erst angefangen hatte.
»Und jetzt, meine lieben Freundinnen«, fuhr Mrs. Meloney laut fort, »zum angenehmsten Teil unserer Veranstaltung. Letzte Woche in Connecticut hatte ich das Vergnügen, einen der Titanen der amerikanischen Industrie kennenzulernen, dessen Großherzigkeit und Pflichtbewusstsein gegen die Öffentlichkeit seinem hohen kaufmännischen Rang in nichts nachstehen. Er ist einer der führenden Unternehmer des Landes in Sachen Öl, Bergbau und Radium. Bitte begrüßen Sie gemeinsam mit mir Mr. Arnold Brighton.«
Der korpulente Herr trat nach vorn und genoss mit Verbeugungen nach allen Seiten eine lange Ovation. Er war völlig kahl bis auf ein Büschel aus drahtig braunem Haar über jedem Ohr, aber penibel gekleidet mit äußerst gepflegten Fingernägeln und goldenen Manschettenknöpfen, die glitzerten, als er die Arme hob, um den Applaus der Damen zu dämpfen.
»Danke, danke – oje, wo habe ich nur meine Rede hingesteckt?« Mit glänzenden Fingernägeln klopfte sich Brighton auf die Taschen. »Habe ich sie vielleicht Ihnen gegeben, Mrs. Meloney?«
»Mir, Mr.
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