Todesinstinkt
September 1920 hielt der Marie-Curie-Radiumfonds eine besondere Vortragsveranstaltung in der Saint Thomas Church an der Fifth Avenue ab. Der Fonds war die Idee von Mrs. William B. Meloney, einer gut gepolsterten Dame in einem gewissen Alter, die in New Yorker Philantropen- und Literatenkreisen bekannt war. Mrs. Meloney war eine vielbeschäftigte Journalistin, die aufgrund ihrer unermüdlichen Reportagen über die feine Gesellschaft von Manhattan zuletzt selbst in diese Eingang gefunden hatte. Wie viele amerikanische Frauen hatte sie eifrig die Nöte der großen Marie Curie aus Frankreich verfolgt und sogar darüber berichtet.
»Es ist eine Schande«, erklärte die mit einer Halsschleife geschmückte Mrs. Meloney von der opulenten, aber düsteren Kirchenkanzel herab, »dass Madame Curie, die größte Wissenschaftlerin der Welt und die Entdeckerin des Radiums, aus bloßem Geldmangel an der Fortsetzung ihrer Forschungen gehindert ist — Forschungen, die bereits zu immensen Erfolgen geführt haben: die Radiumkur gegen Krebs, Radiumcremes für Gesicht und Hände, die uns von unschönen Makeln befreien, und Radiumpräparate, die unseren Gatten neue eheliche Vitalität verleihen.«
Das fast ausschließlich weibliche Publikum applaudierte herzlich.
Mrs. Meloney beglückwünschte die Gäste zu der Tapferkeit, mit der sie sich nur einen Tag nach der schrecklichen Tragödie auf der Wall Street hinausgewagt hatten. »Es war schon immer das Los der Frau, Beharrlichkeit zu beweisen, wenn sich der Mann von seinen heftigen Leidenschaften überwältigen lässt. Und auch jetzt brauchen wir Beharrlichkeit. Der Preis für ein Gramm Radium ist beängstigend hoch — einhunderttausend Dollar –, aber diese Summe muss aufgebracht werden. Die Ehre der amerikanischen Frauen steht auf dem Spiel. Ich selbst habe Madame Curie in ihrem Haus in Paris mein Ehrenwort gegegen, und es ist jetzt die Pflicht jeder Einzelnen von uns, großzügig an den Fonds zu spenden oder unsere Gatten dazu zu bewegen.«
Als erneut Beifall aufbrandete, kam ein vernehmliches Knarren von der Eingangstür der Kirche.
»Gott sei Dank«, rief Mrs. Meloney. »Da ist endlich Miss Rousseau. Wir haben uns schon Sorgen gemacht, meine Liebe.«
Die elegant gekleideten Damen reckten die Hälse. Schweigend schritt Colette durch den breiten Mittelgang, den Koffer mit den Erzproben und den radioaktiven Elementen in der Hand — ein Bild der Verlegenheit. Sie murmelte eine Entschuldigung, doch ihre leisen Worte verhallten ungehört in der riesigen, schwach beleuchteten gotischen Kirche mit den hohen Säulen und der gewölbten Decke. Colette hatte einige wenige Frauen in einem kleinen Seminarraum erwartet, und nicht etwa zweihundert Zuhörerinnen, die sich vor der Kanzel eines Gotteshauses
und einer überlebensgroßen Kreuzigungsdarstellung an einem gewaltigen Altaraufsatz versammelt hatten.
Mrs. Meloney fuhr fort. »An den letzten Wochenenden habe ich zusammen mit Miss Rousseau – die bei Madame Curie in Paris studiert hat und uns im Anschluss eine Einführung in die ›Wunder des Radiums‹ geben wird — die größten Fabriken Amerikas besucht, in denen Radiumprodukte hergestellt werden. Den Eigentümern dieser Fabriken haben wir eindringlich vor Augen gestellt, wie viel sie Madame Curie zu verdanken haben. Und unsere Bemühungen waren nicht vergeblich, wie ich nachher erfreut bekanntgeben darf.«
An dieser Stelle tauschte Mrs. Meloney einen wissenden Blick mit einem fülligen, tadellos gekleideten Herrn, der links von ihr saß und dem Publikum generös zuwinkte. Dann überließ sie die Kanzel Colette, die mit einem Lächeln ihre Anstrengung überspielte, als sie den Laborkoffer über die Stufen zum Pult hinaufschleppte.
»Vielen Dank, Mrs. Meloney.« Colettes bleiche Wangen wurden vom Publikum auf die ausländische Herkunft der Rednerin zurückgeführt. »Es ist mir eine große Ehre, den Marie-Curie-Radiumfonds mit meinen bescheidenen Kräften zu unterstützen.«
Colette hielt inne, weil sie bei der Erwähnung von Marie Curies Namen mit Applaus rechnete. Stattdessen wurde es merklich still.
»Nun, ich beginne.« Sie hatte Mühe, die zusammengerollten Blätter, auf denen sie sorgfältig ihren Vortrag notiert hatte, flach auf das Pult zu drücken. »Vor vierundzwanzig Jahren legte der französische Wissenschaftler Henri
Becquerel eine Schale Uransalze neben einer umhüllten fotografischen Platte in eine geschlossene Schublade und ließ sie eine Woche dort. Führte er
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