Todesinstinkt
Finanzier in New York – nach J.P. Morgan Senior. Er hat Morgan dafür gehasst. Nun ist er abgestürzt und macht uns für sein Unglück verantwortlich. Vollkommen lächerlich. Er ist Deutscher, ein persönlicher Freund des Kaisers. Sein Haus hat die Armeen des Kaisers finanziert. Als unser Land dem seinen den Krieg erklärt hat, hatte er nirgendwo mehr Kredit. Eigentlich ganz klar. Aber anscheinend ist er der Meinung, dass es immer noch eine Verschwörung gegen ihn gibt, um ihm den Zugang zu Kapital zu verwehren, und dass wir die Drahtzieher sind. Sogar gedroht hat er mir.« Lamont machte tatsächlich einen beunruhigten Eindruck.
»Wie gedroht?«
»Das war bei unserem Wahlkampfdiner für die Demokraten. Nein, bei unserem Republikanerdiner — für Harding. Wir machen natürlich beides. Jedenfalls hat er mich beiseitegenommen und mich gewarnt, ich soll aufpassen – ich zitiere ihn, Captain. Ich soll aufpassen, weil es manche Leute nicht mögen, wenn sich eine Bank mit anderen zusammentut, um jemandem Kapital zu verweigern.«
»Sie sagen, er hat die deutsche Armee finanziert?«
»Keine Frage«, antwortete Lamont. »Heimlich natürlich. Seinen Namen werden Sie auf den Verträgen nicht finden. Und wenn Sie ihn fragen, erzählt er Ihnen bestimmt, dass er unser Land liebt. Aber er steht nicht loyal zu uns. Ich bezweifle, dass er überhaupt Loyalität zu einem Land kennt,
auch wenn es sein eigenes ist. Das liegt bei denen im Blut. Ein Bolschewist reinsten Wassers.«
»Moment mal.« Littlemore stockte kurz. »Der Kerl ist also ein Bankier, mit dem Kaiser befreundet ...«
»Der Kaiser hat ihn sogar zum Ritter geschlagen. Er hat ihm den roten Adlerorden verliehen.«
» Und ein Bolschewist?«
»Er ist Jude«, erläuterte Lamont.
Schallendes Gelächter brandete durch den Raum. Ein Butler näherte sich.
»Ach, ein Jude«, meinte Littlemore. »Jetzt verstehe ich. Wie heißt er?«
Der Butler beugte sich zu Lamont. »Der Herr ist wieder da, Sir.«
»Um Himmels willen, sagen Sie ihm, ich bin nicht da.« Lamont war sichtlich irritiert.
»Ich fürchte, er weiß, dass Sie hier sind, Sir.«
»Schicken Sie ihn einfach weg. Wenn ich in meinem Club bin, will ich nichts von Geschäften hören. Er soll mich im Büro aufsuchen.« An Littlemore gewandt fügte Lamont hinzu: »Der neue Handelsattaché Mexikos. Die reinste Klette.«
»Wie heißt der Mann, Mr. Lamont?«
»Señor Pesqueira, glaube ich. Warum fragen Sie?«
»Nein, ich meine den Mann, der Sie bedroht hat.«
»Ach so. Speyer. Mr. James Speyer.«
»Wissen Sie, wo ich ihn finde?«
»Eben deswegen habe ich Sie hergebeten. Vielleicht können Sie sich noch heute Abend mit Mr. Speyer unterhalten. «
»Er ist Mitglied?«
»Im Bankers and Brokers Club?« Lamont starrte ihn ungläubig an. »Selbstverständlich nicht! Mr. Speyer speist gern im Delmonico’s, das der Öffentlichkeit zugänglich ist. Wie ich höre, ist er gerade da. Das könnte Ihre letzte Gelegenheit sein.«
»Wieso?«
»Wie es heißt, will er morgen das Land verlassen.«
I n New Haven, Connecticut, hatten Colette und Luc Rousseau in der Nähe der stattlichen Villen an der Hillhouse Avenue ebenfalls die Kirche besucht. Auf dem Heimweg spazierten sie um einen Friedhof, während dicke Wolken unbekümmert über einen prächtig blauen Himmel zogen. Colette wollte ihren Bruder an der Hand halten, aber er ließ es nicht zu.
Nach Sonnenuntergang kehrten sie in ihr kleines Zimmer im Wohnheim zurück, und Colette schrieb einen Brief.
19.9.1920
Lieber Stratham,
während ich diese Worte schreibe, schlüpft Luc in Ihre Rolle und holt mit einem imaginären Baseballschläger aus. Dann schlüpft er in die Rolle dieses furchtbaren Menschen und springt herum, die Haare in Flammen.
Ich glaube nicht, dass ihm die Entführung viel ausgemacht hat. Er hatte gar keine Angst. Er ist sogar böse auf mich, weil ich Amerika verlassen will. Ich würde sagen, dass er nicht mit mir redet, wenn man so etwas über einen Jungen sagen könnte, der ohnehin nicht spricht.
Haben Sie herausgefunden, wer diese Frau ist, oder ihren Hals untersucht? Immer wenn ich an sie denke, beschleicht mich ein
ganz sonderbares Gefühl. Wenn sie nur einfach diese grässliche Uhr an sich genommen hätte und davongelaufen wäre! Stratham, Sie werden mir nicht glauben, wenn ich Ihnen sage, wie wenig es mich von hier wegzieht. Ich habe einer Bekannten, die einen Stock höher wohnt, von meiner Fahrt nach New York erzählt: ein Bombenanschlag, eine
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