Todesinstinkt
über Krawatte und Anzug. Einige Türen weiter betrat er den Raum, in dem der Röntgenapparat aufbewahrt wurde, und rollte ihn zum Aufzug. In der zweiten Etage rief er mit befehlsgewohnter Stimme nach einer Krankenschwester, die ihm assistieren sollte. Sofort eilte eine herbei.
Die rothaarige Frau lag noch im selben Zimmer, ihr Zustand war unverändert: Sie lebte, war aber nicht bei Bewusstsein. Mit Hilfe der Schwester hob er die Patientin mit dem Bauch nach unten auf die hölzerne Röntgenbank und drehte ihren Kopf zur Seite. Ihr Profil war beklemmend engelhaft bis auf den monströsen Auswuchs an Kinn und Kehle, der im elektrischen Licht des Krankenzimmers noch aufgetriebener und unnatürlicher wirkte als im Halbdunkel der Kirche. Younger bohrte zwei behandschuhte Finger in die Masse, die in ihm ein merkwürdiges, äußerst unmedizinisches Gefühl von Ekel weckte. Das Innere der Wucherung war weich, aber knotig.
Younger stellte fest, dass es viel einfacher war, eine komatöse Person zu röngten als jemanden, der bei Bewusstsein war. So konnte es zum Beispiel nicht passieren, dass sich die Untersuchte während der Bestrahlung bewegte. Die auf
Rollen befestigte Röntgenröhre ließ sich mühelos unmittelbar unter die Wange der Frau schieben. Geschützt hinter einer Bleitafel schaltete Younger die Strahlung ein und justierte die Blende, bis auf dem Testschirm über dem Kopf der Frau nur noch die Geschwulst fluoreszierte. Dann ersetzte er den Testschirm durch eine unbelichtete fotografische Platte. Genau acht Sekunden lang ließ er die Strahlung durch den Körper der Frau strömen. Diesen Vorgang wiederholte er aus verschiedenen Perspektiven und benutzte dafür jeweils eine neue Platte.
A m gleichen Morgen purzelte die Familie Littlemore aus dem Wohnhaus an der Fourteenth Street, um zur Kirche zu gehen. Die Kinder waren gewaschen und gestriegelt worden, bis sie blitzten wie bewegte Spiegel. Littlemore trug die kleine Lily auf den Schultern. Lily bekam immer eine Vorzugsbehandlung, und wegen ihrer Krankheit erhoben die anderen Kinder keine Einwände.
Wie immer am Sonntagvormittag hatte sich Bettys Mutter zu ihnen gesellt, die fünfzehn Zentimeter kleiner war als ihre Tochter. Sie trug ihren Kirchenhut und hielt betont Abstand zu ihrem Schwiegersohn. Aus Respekt vor Bettys religiösen Gefühlen hatte sich Littlemore bereiterklärt, am Sonntag die katholische Messe zu besuchen und seine Kinder in diesem Glauben zu erziehen, aber er konnte sich nie an das viele Bekreuzigen gewöhnen. An das Knien. Und Beichten. Er neigte den Kopf, aber er wollte sich einfach nicht bekreuzigen. So kam es, dass Bettys Mutter jeden Sonntag beim Kirchgang so tat, als würde sie ihren Schwiegersohn nicht kennen, um ihre Frömmigkeit zu unterstreichen.
Einer der Knirpse rief seinem Vater zu, dass Post gekommen war. Er reichte Littlemore einen kleinen Umschlag mit ziselierter Aufschrift. Littlemore nahm Lily von den Schultern und erklärte seinem Sohn, dass es keine Post sein konnte, weil am Sonntag keine Post zugestellt wurde.
»Ist es eine Bombe?«, erkundigte sich der Junge mit echter Neugier.
»Nein, es ist keine Bombe, Herrgott nochmal.« Littlemore legte möglichst viel Überzeugungskraft in seine Stimme und wechselte einen Blick mit Betty. »Bomben sind größer.«
Der Umschlag enthielt eine Einladung für sieben Uhr an diesem Abend in den Bankers and Brokers Club. Sie stammte von Thomas Lamont.
Der Detective und seine Sippe waren noch keinen halben Block vorangekommen, als ein stämmiger Mann in dunklem Anzug die Straße überquerte und Littlemore auf die Schulter tippte.
Es war einer von Direktor Flynns Assistenten. »Ich habe eine Nachricht für Sie.«
»Ach? Na, dann raus damit.«
»Der Chief weiß, dass Sie einen US-Zusteller befragt haben.«
»Und?«
»Er mag es nicht, wenn Sie US-Zusteller befragen.«
»Tatsächlich? Gut, ich habe auch eine Nachricht für Big Bill«, erwiderte Littlemore. »Richten Sie ihm aus, es heißt Briefträger . Einfach Briefträger. Sind Sie auf dem Weg zur Kirche?«
»Sie halten sich wohl für besonders schlau.« Flynns Helfer
ließ den Blick über Littlemores Kinder und ihre Mutter im Sonntagsstaat gleiten. »Nette Familie. Der Chief weiß alles über Ihre Familie. Italiener, oder?«
Littlemore trat ganz nah an den Mann heran. »Sie wollen mir doch nicht drohen, oder?«
»Wir haben uns nur gewundert, dass der Sohn eines Iren eine Italienerin heiratet.«
»Großartig ermittelt. Mein
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