Todesinstinkt
Entführung, ein Messerwurf, eine Wahnsinnige in einer Kirche. Sie meint, dass sie vor Angst gestorben wäre und dass ich das Land bestimmt so schnell wie möglich verlassen möchte. Aber so ist es nicht. Ich möchte bleiben.
Doch ich habe einen Eid geschworen, und ich muss abreisen. Ich weiß, dass Sie es nicht gerne hören, aber ich habe noch für keinen Menschen etwas Ähnliches empfunden wie für Hans. Ihn zu sehen, ist mir wichtiger als alles andere auf der Welt, auch wenn es nur noch ein einziges Mal ist. Aber vielleicht ist Ihnen das ohnehin einerlei, bei Ihnen bin ich mir da nie sicher.
Doch falls es Ihnen nicht gleichgültig ist, möchte ich Sie um etwas bitten — einen Gefallen, der so groß ist, dass ich ihn kaum hinzuschreiben wage, nach allem, was Sie bereits für mich getan haben. Ich bin die undankbarste Frau, die je gelebt hat. Dennoch meine Bitte: Kommen Sie mit mir nach Wien. Ganz ehrlich, ich erwarte, dass ich Hans nur einmal sehe und dann nie wieder. Was auch geschieht, ich werde mich danach sehnen, dass Sie bei mir sind. Bitte sagen Sie, dass Sie mitkommen.
Es grüßt Sie von Herzen
Colette
D ie Luft im Restaurant Delmonico’s war noch verrauchter als im Club, dafür war es weniger voll und viel leiser. Im Hauptsalon mit Blick auf die Fifth Avenue herrschte nicht das übliche Glitzern von Diamantohrringen und Kristallgläsern.
Littlemore fiel auf, dass der Bombenanschlag noch immer das wichtigste Gesprächsthema war. Allerdings traten an die Stelle von Fassungslosigkeit und Schrecken allmählich Gift und Galle.
»Wisst ihr, was wir machen müssten?«, fragte ein Mann an einem Tisch mit vier Gästen. »Die Italiener einen nach dem anderen erschießen, bis sie uns verraten, wer es war.«
»Aber doch nicht alle, Henry.«
»Warum nicht?«, brauste Henry auf. »Wenn sie uns mit Bomben angreifen, bringen wir sie um. Ganz einfach. Nur so kann man Terroristen aufhalten. Man trifft sie, wo es ihnen wehtut.«
»Aber warum hassen sie uns so?«, fragte die Frau neben ihm.
»Wen interessiert das?«
»Alle deportieren, sage ich«, erklärte der andere Mann. »Alle Italiener raus aus dem Land, dann ist Schluss mit den gemeinen Bomben. Die tragen doch sowieso nichts bei zur Gesellschaft.«
»Und was ist mit Delmonico’s?«, fragte die zweite Frau. »Trägt das Restaurant nichts bei?«
»Alle Italiener deportieren außer Delmonico’s!« Der Mann hob sein Glas.
»Nein, mein Steak ist zerkocht, Delmonico’s muss auch weg!« Nach Henrys Bemerkung brach der ganze Tisch in lautes Lachen aus. Den Gästen war offenbar nicht bekannt, dass das Delmonico’s nicht mehr den Delmonicos gehörte.
Der Oberkellner näherte sich Littlemore. Auf seine Frage nach Mr. James Speyer wurde der Detective in einen Innengarten geführt, der mit deckenhohen Buntglasfenstern umgeben war. An einem Ecktisch saß ein Mann allein – ungefähr
sechzig mit noch fast schwarzem Haar und traurigen Dackelaugen.
Der Detective trat an den Tisch. »Mein Name ist Littlemore. Von der New Yorker Polizei. Gestatten Sie, dass ich mich zu Ihnen setze?«
»Ah«, antwortete Speyer. »Endlich zeigt das Gesetz ein menschliches Gesicht. Natürlich gestatte ich. Niemand speist gern allein.« Speyer hatte einen deutlichen deutschen Akzent. Vor ihm standen Teller und Gläser einer verzehrten Mahlzeit. »Wissen Sie eigentlich, was Sie getan haben? Sie haben dieses Etablissement ruiniert.« Mr. Speyer war offensichtlich nicht mehr ganz nüchtern. »Ich führe nämlich immer ein Gespräch mit dem Kellner. Ich frage ihn, ob sie Schildkröte haben. Das Zeug würde ich nie essen, aber ich frage. Er sagt Nein, die Schildkröte ist nach Artikel sechsundachtzig verboten, weil man sie nicht ohne Wein kochen kann. Also bestelle ich das Porterhousesteak mit Bordelaisesoße. Ebenfalls Artikel sechsundachtzig, antwortet er. Und immer so weiter. Schließlich frage ich ihn, was sie denn überhaupt haben. Er meint, ich soll es mit Nummer sechsundachtzig probieren.«
Littlemore schwieg.
»Nummer sechsundachtzig, das schlicht gegrillte Filetsteak«, erläuterte Speyer. »Das früher immer aus war. Jetzt ist es das Einzige, was man noch kriegt. Alles andere ist prohibitioniert.«
»Wir machen die Gesetze nicht, Mister«, antwortete Littlemore. »Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«
»Na schön. Aber nicht hier. Wenn es schon sein muss, dann in meinem Wagen.«
Speyer bezahlte die Rechnung und führte den Detective
hinaus auf die Forty-fourth
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