Todesjagd
nickte zu dem Koffer hinüber, der am Ende eines Bettes stand.
Er enthielt einen Ersatz für die SIG, die Quinn in D. C. hatte zurücklassen müssen, und eine Glock für seinen Assistenten.
»Willst du sie mitnehmen?«, fragte Nate.
Quinn überlegte einen Augenblick und schüttelte dann den Kopf. Zwar würde Orlando nicht verärgert sein, wenn er bewaffnet wäre, doch es schien ihm nicht richtig, mit einer Pistole zur Beerdigung ihrer Tante zu gehen.
»Wenn ich zurückkomme. Für den Augenblick geht es wohl auch ohne.«
»Ich bedaure, dass ich nicht mitkommen kann«, sagte Nate.
Quinn lächelte müde.
»Sie wird es verstehen.«
»Du wirst ihr sagen, dass es mir leidtut, ja?«
»Selbstverständlich.«
Sie schwiegen, während Quinn sich weiter umzog.
Als er sich die Krawatte band, warf Nate einen Blick zum angrenzenden Zimmer.
»Was soll ich machen, wenn deine Freundin aufwacht?«
»Lass ihr etwas zu essen kommen. Sie kann fernsehen. Aber lass sie nicht weg.«
Nate nickte, und als Quinn zur Tür ging, sagte er:
»Vergiss nicht, Orlando zu sagen, wie leid …«
»Ganz bestimmt nicht.«
Orlandos Tante Jeong hatte in einem jener edwardianischen sogenannten »Shotgun Houses« gewohnt, die erbaut worden waren, kurz nachdem das berüchtigte Erdbeben von 1906 San Francisco in Trümmer gelegt hatte. Ein zweistöckiges Haus mit Untergeschoss. Aber anders als die meisten anderen Häuser in der Nachbarschaft war es nicht in eine untere und eine obere Wohnung unterteilt worden. Aus irgendeinem Grund hatte Tante Jeong der Unsitte widerstanden, ihr Heim für schnelles Geld zu verschandeln.
Es war innerhalb von fünfJahren das zweite Mal, dass Quinn ihr Haus aufsuchte, und jedes Mal war es kein glücklicher Anlass gewesen. Tatsächlich war sein vorheriger Besuch der Anfang einer vier Jahre andauernden Zeitspanne gewesen, in der er und Orlando jeden Kontakt zueinander verloren hatten.
»Verloren« war nicht das richtige Wort, wie Quinn wusste. »Abgebrochen« war wohl richtiger. Er zog jedoch »verloren« vor; es linderte den Schmerz. Das erste Mal war es nach einem Auftrag passiert, den er und Durrie zu erledigen hatten. Doch anstatt Durrie lebendig zu ihr zurückzubringen, hatte Quinn ihr eine Urne voller Asche gebracht, von der sie beide glaubten, dass es die ihres Freundes war. Dass es, wie es sich später erwies, nicht zutraf, änderte nichts daran, dass es der schlimmste Tag in Quinns Leben war. Und, wie er vermutete, auch in Orlandos.
Fünf Stufen führten zur Haustür. Quinn zögerte sekundenlang und zwang sich dann hinaufzugehen. Er klopfte, wartete eine Weile und klopfte noch einmal. Aber niemand machte auf.
Orlando hatte Nate gesagt, die Beerdigung finde am Nachmittag statt, aber nicht erwähnt, wann genau. Seit er zurück
war, hatte Quinn ein paarmal versucht, sie anzurufen, sie aber nicht erreicht.
Er klopfte noch einmal. Noch immer keine Reaktion. Er ging auf die Straße zurück, blickte nach links und nach rechts.
Der Gottesdienst konnte wer weiß wo abgehalten werden.
Plötzlich fühlte er sich sehr müde. Markoff war tot. Jenny wurde vermisst. Die Verantwortung, die er allmählich für Tasha empfand. Und jetzt dies, seine beste Freundin hatte die Tante verloren, die sie so sehr geliebt hatte.
Er setzte sich auf die Treppe. Jetzt konnte er nichts anderes tun als warten.
Und wenn er etwas konnte, dann war es, geduldig zu warten.
»Also«, flüsterte Orlando, »das erste Mal hast du das Gesetz gebrochen, als …«
Quinn überlegte einen Moment.
»Ich war zwölf. Habe einen Schokoriegel geklaut - eine Mutprobe, zu der mich ein Freund aufgestachelt hatte.« Er sprach genauso leise.
»Hat man dich erwischt?«
»Mehr oder weniger.«
Sie neigte den Kopf zur Seite. Wollte mehr hören.
Quinn rückte die Beine ein paar Zentimeter nach links, um sich bequemer zurechtzusetzen. Ein schwieriges Unterfangen in dem Allzweckschrank, in dem sie zusammengepfercht saßen. Den größten Raum nahm ein Schaltsystem des Computer-Netzwerkes der Firma ein.
Orlando saß direkt neben der Tür, Quinn hatte sich in die Ecke gezwängt, um ihr so viel Platz wie möglich zu geben.
»Tatsächlich habe ich zwei genommen«, sagte er. »Im Lebensmittelladen bei uns zu Hause. Einer der Verkäufer hielt
mich kurz vor dem Ausgang auf, und ich musste einen Riegel zurückgeben.«
»Nicht beide?«
»Von dem anderen wusste er nichts. Aber er ließ mich gehen. Ich glaube, er hat gedacht, er hätte mir genug Angst
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