Todeskampf - Robotham, M: Todeskampf - The Night Ferry
zweite Gesicht ist verschwunden. Ich habe sie zurück.
Wir sind fast zu Hause. Etwa fünfzig Meter hinter uns hat ein Wagen abgebremst und folgt uns im Schritttempo. Die Angst steckt mir im Hals. Ich greife in meinen Rücken und ziehe den Saum meiner Bluse aus dem Bund. Der Halfter mit der Glock ist in meinem Kreuz.
Hari ist bereits in die Hanbury Street gebogen. Mama und Bada sind nach Hause gefahren. Gegenüber der nächsten Laterne ist ein Fußweg zwischen zwei Häusern. Samira hat den Wagen jetzt auch bemerkt.
»Dreh dich nicht um!«, erkläre ich ihr.
Unter der Laterne schubse ich sie in Richtung des Fußwegs und rufe ihr zu, dass sie rennen soll. Sie gehorcht, ohne zu fragen. Ich drehe mich wieder zu dem Wagen um. Das Gesicht des Fahrers liegt im Schatten. Ich richte die Pistole auf seinen Kopf, und er hebt die Arme wie ein Pantomime hinter einer Glaswand.
Das hintere Fenster wird heruntergelassen, und die Innenbeleuchtung geht an. Ich schwenke die Pistole zu der Öffnung. Julian Shawcroft hat eine Hand an der Tür, in der anderen hält er etwas, das aussieht wie ein Gebetbuch.
»Ich möchte Ihnen etwas zeigen«, sagt er.
»Werde ich etwa verschwinden?«
Er wirkt enttäuscht. »Vertrauen Sie darauf, dass Gott Sie beschützen wird.«
»Bringen Sie mich zu den Zwillingen.«
»Ich werde Ihnen helfen zu verstehen.«
Eine Böe, eine Salve von Regentropfen – der Abend wird windig und ungemütlich. Überall in London streben die Menschen nach Hause, während die letzten Feuer herunterbrennen. Wir überqueren den Fluss und fahren durch Bermondsey Richtung Süden. Zwischen Häusern und über Baumkronen kann man die schimmernde Kuppel von St. Paul’s ausmachen.
Shawcroft schweigt. Ich sehe sein Gesicht im Scheinwerferlicht der entgegenkommenden Autos. Ich schmiege die Waffe in meine Hände, er sein Buch. Ich sollte Angst haben, aber stattdessen hat eine seltsame Ruhe von mir Besitz ergriffen. Ich habe nur einmal zu Hause angerufen, um mich zu vergewissern, dass Samira sicher angekommen ist.
Der Wagen biegt von der Straße in eine Einfahrt und hält in einem Hinterhof. Beim Aussteigen sehe ich über das glänzende Wagendach hinweg zum ersten Mal das Gesicht des Fahrers. Es ist nicht Brendan Pearl. Das hatte ich auch nicht erwartet. Shawcroft wäre niemals so dumm, sich mit einem bekannten Killer zu zeigen.
Eine Frau in einem französischen Bauernrock und einem zu großen Pullover taucht an Shawcrofts Seite auf. Sie hat die Haare so streng nach hinten gebunden, dass ihre Brauen hochgezogen sind.
»Das ist Delia«, stellt er sie vor. »Sie leitet eine meiner Wohlfahrtseinrichtungen. «
Ich schüttele ihre glatte trockene Hand.
Delia führt uns durch eine Doppeltür und eine enge Treppe hinauf. An den Wänden hängen Plakate mit provozierenden Bildern von Hunger und Vernachlässigung, darunter auch das Foto eines afrikanischen Kindes mit aufgeblähtem Bauch und flehenden tief liegenden Augen wie die Sammelschalen eines Bettlers. In der unteren Ecke ist ein Logo abgedruckt, eine Uhr,
die anstelle von Zahlen Buchstaben hat, die zusammengesetzt O.R.P.H.A.N.W.A.T.C.H. ergeben.
Ich schiebe die Waffe zurück in den Halfter.
Wir betreten ein Büro mit Schreibtischen und Aktenschränken. Vor dem Fenster zeichnen sich Umrisse eines auf Standby schlummernden Computerbildschirms ab. Shawcroft wendet sich an Delia. »Ist offen?«
Sie nickt.
Ich folge ihm in einen zweiten Raum, der mit Leinwand und Projektor wie ein kleines Heimkino ausgestattet ist. An den Wänden hängen weitere Plakate neben Zeitungsausschnitten, die teilweise an den Ecken verknickt oder an den Rändern ausgefranst sind. Ein kleines Mädchen in einem schmutzigen weißen Kleid blickt in die Kamera; ein Junge mit verschränkten Armen mustert mich trotzig. Dutzende Bilder dieser Art reihen sich unter kleinen Spots nebeneinander, die sie in tragische Kunstwerke verwandeln.
»Das sind diejenigen, die wir retten konnten«, sagt er und faltet fromm seine blassen Hände.
Die Wandtafeln sind ausklappbar. Er zieht sie heraus und enthüllt weitere Fotos.
»Erinnern Sie sich an die Waisen der Tsunami-Katastrophe? Kein Mensch kennt ihre genaue Zahl, aber Schätzungen gehen von bis zu zwanzigtausend aus. Obdachlose, mittellose, traumatisierte Kinder. Familien standen für ihre Adoption Schlange; Regierungen wurden mit Angeboten belagert, die jedoch fast ausnahmslos abgelehnt wurden.«
Shawcrofts Blick gleitet über mich hinweg. »Soll ich Ihnen
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