Todeskampf - Robotham, M: Todeskampf - The Night Ferry
nicht.«
Kandidat Nummer zwei ist älter mit Hornbrille und buschigen Augenbrauen. Er sieht aus wie ein Bibliothekar, der bei einer Razzia auf Pädophile erwischt wurde. Warum sind alle Fotos so unvorteilhaft? Es liegt nicht bloß am harschen Licht und dem leeren weißen Hintergrund mit der Messlatte zur Markierung der Größe. Alle Abgebildeten wirken ausgemergelt, deprimiert und – am allerschlimmsten – schuldbewusst.
Ein neues Foto erscheint auf dem Bildschirm. Ein Mann Ende vierzig mit rasiertem Schädel. Irgendetwas an seinen Augen lässt mich stutzen. Er sieht arrogant aus, als ob er wüsste, dass er cleverer ist als die riesige Mehrheit seiner Mitmenschen, was ihn zur Grausamkeit neigen lässt.
Mit der Hand decke ich die obere Hälfte des Bildes auf dem Monitor ab und versuche mir den Mann mit einem langen grauen Pferdeschwanz vorzustellen.
»Das ist er.«
»Bist du sicher?«
»Absolut.«
Sein Name ist Brendan Dominic Pearl – geboren 1958 in Rathcoole, einem royalistischen Viertel im Norden von Belfast.
»IRA«, flüstert Dave.
»Woher weißt du das?«
»Es ist der klassische Hintergrund.« Er scrollt weiter zur Biographie des Mannes. Pearls Vater war Kesselschmied auf den Docks von Belfast. Sein älterer Bruder Tony starb 1972 bei einer Explosion, als in einem Lagerhaus, das die IRA als Bombenwerkstatt benutzte, irrtümlich ein Sprengsatz losging.
Ein Jahr später wurde Brendan Pearl im Alter von fünfzehn wegen eines Überfalls und Verstoßes gegen das Schusswaffengesetz zu einer achtzehnmonatigen Jugendstrafe verurteilt. 1977 führte er einen Granatwerferanschlag gegen ein Belfaster Polizeirevier, bei dem vier Menschen verletzt wurden. Er wurde zu zwölf Jahren Haft verurteilt.
1981 trat er im berüchtigten Maze-Gefängnis zusammen mit zwei Dutzend republikanischen Häftlingen in einen Hungerstreik. Sie protestierten dagegen, nicht wie Kriegsgefangene, sondern wie gewöhnliche Verbrecher behandelt zu werden. Der Berühmteste von ihnen, Bobby Sands, starb nach 66 Tagen. Pearl fiel im Krankenhaustrakt des Gefängnisses ins Koma, überlebte jedoch.
Zwei Jahre später, im Juli 1983, kletterten er und sein Mithäftling Frank Farmer aus ihrem Hof auf das Dach der Haftanstalt und verschafften sich Zutritt zu dem Hof der loyalistischen Gefangenen. Dort ermordeten sie Patrick McNeill, den Anführer einer paramilitärischen Einheit, und verstümmelten
zwei weitere Häftlinge. Pearls Urteil wurde in lebenslänglich umgewandelt.
Ruiz tritt zu uns an den Tisch. Ich zeige auf den Bildschirm. »Das ist er – der Fahrer.«
Er spannt die Schultern an und sucht meinen Blick.
»Sind Sie sicher?«
»Ja? Warum? Was ist los?«
»Ich kenne ihn.«
Ich sehe ihn überrascht an, während Ruiz erneut das Foto studiert, als ob er nicht sofort auf sein Wissen zugreifen könnte oder erst nutzlose Informationen beiseiteschieben müsste.
»In jedem Gefängnis gibt es Banden. Pearl war einer der Vollstrecker der IRA. Seine Lieblingswaffe war eine Metallstange mit einem geschwungenen Haken wie ein Marlspieker. Deswegen nannte man ihn auch den Fischer von Shankhill. Im Maze-Gefängnis findet man zwar nicht allzu viele Fische, aber er fand andere Verwendung für seinen Spieker. Er schob ihn zwischen den Gitterstangen hindurch, wenn die Gefangenen schliefen, schlitzte ihnen mit einer Drehung die Kehle auf und zog dabei ihre Stimmbänder heraus, sodass sie nicht um Hilfe rufen konnten.«
Ich habe ein Gefühl, als ob meine Speiseröhre mit Watte verstopft würde. Ruiz hält mit gesenktem Kopf reglos inne.
»Nach Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens wurden mehr als vierhundert Gefangene entlassen – Republikaner und Loyalisten. Die britische Regierung erstellte eine Liste mit Ausnahmefällen – Leuten, die sie auf jeden Fall hinter Gittern behalten wollte. Darauf stand auch Pearl. Seltsamerweise stimmte die IRA zu. Die wollten Pearl genauso wenig wie wir.«
»Und warum sitzt er dann nicht immer noch im Gefängnis? «
Ruiz lächelt trocken. »Das ist eine sehr gute Frage, New Boy. Vierzig Jahre lang hat die britische Regierung den Leuten erzählt, dass sie in Nordirland keinen Krieg führt – es handelte
sich lediglich um einen Polizeieinsatz, wie sie es ausdrückten. Dann unterzeichnete sie das Karfreitagsabkommen und erklärte: Der Krieg ist vorbei.«
»Pearl besorgte sich einen guten Anwalt, der diese Argumentation aufnahm. Er sagte, sein Mandant sei ein Kriegsgefangener, und es dürfe keine Ausnahmen geben.
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