Todeskampf - Robotham, M: Todeskampf - The Night Ferry
mich sehen oder feststellen, dass die Tasche weg ist.
Er rollt sich halb aus dem Bett, greift nach seiner Jacke und fummelt an seinem Handy herum.
»Ja. Tut mir leid, Schatz, ich hätte anrufen sollen. Es ist spät geworden, und ich wollte dich und die Kinder nicht wecken – Nein, mir geht es gut, ich bin nicht betrunken. Nur ein paar Gläser – Nein, ich hab die Nachrichten nicht gesehen – Das ist wirklich toll – Ja – Okay – Ich ruf dich morgen früh an – Geh jetzt schlafen – Ich liebe dich auch.«
Er wirft das Telefon zur Seite und starrt an die Decke. Einen Moment lang glaube ich, dass er wieder einschläft, aber dann stöhnt er und rollt sich aus dem Bett. Das Licht im Badezimmer geht an. Forbes schließt die Tür nicht. Mein Versteck ist jetzt sauber ausgeleuchtet. Er lässt seine Boxershorts bis zu den Knöcheln rutschen und pinkelt.
Ich drücke mich hinter ihm aus dem Licht, schleiche durchs Zimmer und ziehe leise die Tür hinter mir zu. Mir ist schwindelig, und ich zittere. Ich habe eine von Ruiz’ Grundregeln verletzt : Auch unter Stress nicht vergessen zu atmen.
In meinem Zimmer leere ich den Inhalt der Stofftasche auf mein Bett. Ein Taschenmesser mit einer abgebrochenen und einer intakten Klinge, ein kleiner Spiegel, ein Medizinfläschchen voll Sand, eine Kohlezeichnung von zwei Kindern und eine ramponierte runde Keksdose.
Jedes Objekt ist bedeutsam. Warum wurde es sonst mitgenommen ? Dies sind die irdischen Besitztümer eines Sechzehnjährigen. Sie können ihm unmöglich wieder Leben einhauchen oder mir von seinen Ängsten und Wünschen erzählen. Es ist nicht genug. Er hat mehr verdient.
Die Keksdose enthält einen angelaufenen Orden und eine in der Mitte gefaltete Schwarzweißfotografie. Sie scheint eine Gruppe von Arbeitern darzustellen, die vor einer Fabrik mit Wellblechdach und Holzläden vor den Fenstern stehen. An der Mauer hinter ihnen sind Kisten, Paletten und Tonnen gestapelt.
Die Arbeiter sind in zwei Reihen arrangiert. Die vordere sitzt auf Stühlen, in der Mitte ein Patriarch oder der Fabrikbesitzer auf einem Stuhl mit hoher Lehne. Er sitzt kerzengerade mit strenger Miene, den Blick in die Ferne gerichtet. Eine Hand liegt auf seinem Knie. Die andere fehlt, und der Ärmel seines Mantels ist am Ellbogen abgebunden.
Neben ihm sitzt ein Mann, der ihm ähnlich sieht, möglicherweise sein Bruder. Er trägt einen kleinen Fez und einen sauber gestutzten Bart. Auch ihm fehlt eine Hand, und seine linke Augenhöhle scheint leer. Ich lasse meinen Blick über die beiden Reihen von Arbeitern schweifen: Viele sind verstümmelt oder verkrüppelt. Einige stehen auf Krücken, andere haben eine Haut wie geschmolzenes Plastik. Vorne kniet ein Junge auf einem Skateboard. Nein, er kniet nicht. Was ich zuerst für seine
Knie gehalten habe, sind Beinstumpen, die aus seiner kurzen Hose ragen.
Keiner der Arbeiter lächelt. Die Männer haben olivfarbene Haut und verschwommene Gesichtszüge, und wie sehr man das Foto auch vergrößern würde, das Bild würde nicht klarer werden und die Männer nicht weniger steif und finster.
Ich verstaue das Bild wieder in der Blechdose und betrachte die anderen Kuriositäten und Schmuckstücke. Die Kohlezeichnung ist an den Rändern verknittert. Die beiden Kinder, ein Junge und ein Mädchen, sind etwa sechs und acht Jahre alt. Sie hat ihren Arm um seine Schulter gelegt. Sie hat eine hohe Stirn und einen geraden Mittelscheitel. Der Junge wirkt gelangweilt oder rastlos, mit einem Funken Licht in den Augen, das durch ein offenes Fenster hereinfällt. Er möchte draußen sein.
Das Papier fühlt sich weich an zwischen meinen Fingern. Die Zeichnung ist mit einem Fixiermittel besprüht worden, damit die Kohle nicht verwischt. In der linken unteren Ecke befindet sich eine Signatur. Nein, es ist ein Name. Zwei Namen. Die Zeichnung zeigt Hasan als kleinen Jungen zusammen mit seiner Schwester. Samira.
Ich lasse mich auf das Bett sinken, starre an die Decke und lausche auf die tiefe Nacht. Es ist so still, dass ich mich selbst atmen hören kann. Ein wunderschönes Geräusch.
Dies ist eine Geschichte von Teilen, eine Chronik von Fiktionen. Cate hat ihre Schwangerschaft vorgetäuscht. Brendan Pearl hat sie und Felix überfahren. Ihr Arzt hat gelogen. Donavon hat gelogen. Eine Adoptionsagentur hat gelogen. Menschen werden geschmuggelt. Babys werden ge – und verkauft.
Ich habe mal gelesen, dass Menschen, die von Lawinen verschüttet wurden, nicht immer wissen, wo oben
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