Todeskette
Haushälterin anbelangt. Jeden Tag um fünf Uhr morgens kommen ein paar Mädchen aus Gladworth, die ihr helfen, das Haus zu putzen. Um halb sieben sind sie schon wieder weg, weshalb wir sie noch nie zu Gesicht bekommen haben. Allein daran können Sie sehen, wie gut Mrs Grandy alles organisiert hat.«
»Noch eine letzte Frage, Lavinia«, sagte Tweed und hielt inne, um ihre Reaktion zu testen.
Er wartete. Sie wartete. Tweed spürte, wie ihn ein seltsames Prickeln durchlief. Zum Glück sind wir hier in einem Gemeinschaftsraum, dachte er.
»Eine letzte Frage«, wiederholte er. »Sie kennen die beiden Familien, die in diesem großen Haus leben, viel besser, als ich sie jemals kennenlernen werde.« Er machte eine kurze Pause. »Wer in Hengistbury Manor ist Ihrer Meinung nach am ehesten in der Lage, einen Mord zu begehen?«
Er hatte die Frage noch nicht beendet, da bereute er sie auch schon. Sie war unangebracht, um nicht zu sagen ein kapitaler Fehler. Lavinia gehörte ebenso wie die anderen Bewohner des Hauses zu den Tatverdächtigen, da durfte er sie so etwas nicht fragen. Lag sein Fauxpas vielleicht daran, dass sich in den vergangenen Tagen ein unsichtbares Band zwischen ihm und Lavinia gebildet hatte?
»Ich habe mir wieder und immer wieder diese Frage gestellt«, erwiderte Lavinia zögerlich, »aber so sehr ich mich auch bemüht habe, ich konnte mich nicht auf eine Person festlegen. Tut mir leid.« Sie stand auf und strich sich den Rock glatt. »Und jetzt wäre es vielleicht besser, wenn wir Paula hierher bitten würden, damit sie Ihnen die Zeitungen zeigt.«
Auch Tweed stand auf und bedankte sich bei ihr.
»Ich danke Ihnen für Ihre Geduld und Ihr Taktgefühl«, sagte Lavinia und gab ihm einen flüchtigen Kuss direkt auf den Mund. »Ich mag Sie sehr«, sagte sie, bevor sie auf ihren langen Beinen mit großen Schritten zur Tür eilte.
30
Tweed fühlte sich erschöpft und ausgelaugt. Er ging hinüber zum Barschrank, nahm eine Flasche Cognac heraus und goss sich ein wenig davon in einen Schwenker. In der Nacht hatte er nicht gut geschlafen, weil er immer wieder an die verschiedenen Bewohner von Hengistbury Manor hatte denken müssen. Welcher von ihnen war der Mörder?
Die Tür wurde leise geöffnet, und Paula kam, mehrere Zeitungen unter dem Arm, herein. Als sie sah, dass sich Tweed einen Drink genehmigt hatte, kicherte sie.
»Diese Lavinia war wohl zu viel für Sie.«
»Das war das unbefriedigendste Verhör, das ich in meiner ganzen Laufbahn geführt habe«, gab Tweed zu. »Ich habe so gut wie nichts aus ihr herausbekommen.«
»Das habe ich mir gleich gedacht«, meinte Paula und setzte sich Tweed gegenüber in einen Sessel. »Sie ist bei Weitem die intelligenteste Person hier im Haus. Haben Sie jetzt überhaupt einen Nerv für die Zeitungen, oder soll ich sie Ihnen später zeigen?«
»Nein, ich habe schon wieder einen klaren Kopf. Zeigen Sie sie mir.«
Tweed ließ sich von Paula den Stapel Zeitungen geben und las zunächst nur die Schlagzeilen jeder Ausgabe. Der Mord an Bella Main war überall auf der ersten Seite:
REICHSTE BANKERIN DER WELT BRUTAL ERMORDET
BELLA MAIN: TOD IN STACHELDRAHTSCHLINGE
EDELPROSTITUIERTE STIRBT WIE BELLA MAIN
»Das hat uns gerade noch gefehlt«, murmelte Tweed. »Jetzt haben wir auch noch Drew Franklin am Hals. Wie hat er nur so schnell das mit Mandy Carlyle herausfinden können? Der Mord ist kaum entdeckt worden, da schreibt er schon alles darüber in der Zeitung. Das wird Scotland Yard überhaupt nicht gefallen.«
Das Telefon klingelte. Tweed sah hinüber zu Paula und hob ab. Lavinia war am Apparat und sagte mit ruhiger Stimme: »Commander Buchanan ist in der Leitung. Er klingt ziemlich sauer und will unbedingt mit Ihnen sprechen.
Einen Augenblick, ich verbinde.«
»Ja?«, sagte Tweed.
»Was geht denn bei Ihnen vor, verdammt noch mal?«, brüllte Buchanan ins Telefon. »Haben Sie heute schon die Zeitung gelesen? Hier in London ist der Teufel los. Gerade hat mir ein Minister die Hölle heißgemacht. Vermutlich hat er ein Geheimkonto bei der Main Chance Bank. Er wollte von mir, dass ich Ihnen den Fall entziehe und an Chief Inspector Hammer übergebe. Ich habe das natürlich abgelehnt, und zwar mit der Begründung, dass Sie mehr über den Fall wissen als jeder andere. Aber ich brauche endlich einen Täter, sonst reißen die mich hier in Stücke. Können Sie den Fall in den nächsten vierundzwanzig Stunden lösen, Tweed? Hier in Regierungskreisen geht das Gerücht um, dass
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