Todeskleid: Thriller (German Edition)
war auch sie bereit, und wofür wusste sie nur allzu gut.
»Überstürz es nur nicht«, sagte Olivia, die anscheinend Gedanken lesen konnte.
»Ich bin ja nicht dumm, Liv«, flüsterte sie. »Ich fahre nun schon achtzehn Monate auf dem Ich-warte-auf-den-Richtigen-Dampfer, und ich werde nicht ausgerechnet jetzt umsteigen.« Morgen vielleicht, aber nicht heute.
Olivia seufzte. »Ich will nur, dass es dir gutgeht. Wir alle haben Angst um dich und wissen nicht, was wir tun können.«
»Und ich liebe euch dafür, glaub mir das. Ich rufe dich morgen wieder an. Versprochen.«
»Wenn du’s nicht tust, kaufe ich die Flugtickets. Ist der Staatsanwalt jetzt bei dir?«
»Ja.« Grayson hatte sich vom Fenster abgewandt und war zu ihr in die Küche gekommen. Eine steile Falte hatte sich auf seiner Stirn gebildet, die sie gerne weggewischt hätte, doch sie traute sich nicht, ihn anzufassen. Traute sich selbst nicht. Zu viel, zu früh. Und wenn er sie im Arm hielt, fühlte sich das viel zu gut an. »Mir wird schon nichts passieren«, sagte sie zu Olivia. »Ich muss jetzt auflegen, aber ich rufe euch an, wenn ich euch brauche, ich gebe dir mein Wort.« Damit beendete sie das Gespräch und begegnete Graysons unverhohlen neugierigem Blick. »Meine Freunde sorgen sich um mich. Das macht mich wahnsinnig.«
»Und deine Familie macht sich keine Sorgen?«
Sie nahm die Pie aus dem Ofen und schob sich an ihm vorbei, um die Teller auf den Tisch zu stellen. »Ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen, und die sind beide tot, daher sind nur noch Freunde übrig, die sich Sorgen machen können. Komm, setz dich und iss, damit ich kein schlechtes Gewissen habe, dass ich statt Abendessen nur Nachtisch verdrücke.«
Er schien noch mehr Fragen stellen zu wollen, verkniff es sich aber. »Riecht gut.«
»Schmeckt sogar noch besser. Kannst du mir meinen Rucksack geben? Ich würde die Prozessakten gerne noch einmal durchgehen.«
»Ich kann sie durchgehen, Paige. Du musst schlafen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das könnte ich jetzt sowieso nicht. Sobald ich die Augen zumache, sehe ich Delgado vor mir. Und Elena. Die Zeit rinnt uns durch die Finger. Ich muss etwas tun.«
»Na gut, dann sehen wir uns den Mord an Crystal Jones an. Aber lass uns erst essen. Ich wusste gar nicht, was für einen Hunger ich hatte, bis ich die Pie gerochen habe.«
Und ich wusste nicht, wie sehr ich Männerhände vermisst hatte, bis du mich im Arm gehalten hast. Jetzt wollte sie mehr. Viel mehr. Und das würde ihr vermutlich sehr viel schlechter bekommen als Nachtisch zum Abendessen.
Dienstag, 5. April, 21.35 Uhr
Grayson nahm Muñoz’ Akte aus seiner Sporttasche, nicht aber den Ordner, den Daphne über Paige zusammengestellt hatte. Er würde später hineinsehen, wenn Paige endlich schlief.
Die Prozessabschrift lag auf dem Tisch vor ihr, darunter ein Spiralbuch. Sie hatte bereits einige Seiten geschrieben, und er warf einen erstaunten Blick darauf.
»Wieso kannst du denn Steno?«
»Ich war eine Weile Anwaltsgehilfin. Da musste ich Aussagen mitschreiben und ein wenig Recherche betreiben.« Sie zögerte kurz, dann fügte sie hinzu: »Ich habe sogar eine Weile für die Verteidigung gearbeitet.«
Er wirkte nicht sonderlich überrascht. »Und? Waren alle unschuldig?«
»Ach herrje, ganz und gar nicht. Im Gegenteil. Allerdings habe ich nicht sehr lange für diese Kanzlei gearbeitet.«
»Warst du auch mal bei der Staatsanwaltschaft beschäftigt?«
»Nein. Nur bei diesem Familienunternehmen, und dort habe ich im Grunde fast dasselbe gemacht, was ich jetzt für Clay tue: Fotos von Ehepartnern schießen, die fremdgehen, und so weiter.«
»Hast du je daran gedacht, Jura zu studieren?«
»Am Anfang ungefähr täglich. Aber das hätte eine Menge Geld erfordert, und ich hätte mir nur das Community College leisten können.« Sie tippte auf die Mitschrift. »Genau wie Crystal Jones.«
»Deine Fähigkeit, meinen Fragen aus dem Weg zu gehen, wird immer ausgefeilter.«
Sie warf ihm einen schuldbewussten Blick zu, dann begann sie, aus ihren Notizen vorzulesen. »›Crystal Jones, zwanzig Jahre alt, ging am 18. September auf eine Party. Ein Gärtner – nicht Ramon, der war noch nicht zur Arbeit gekommen – fand sie am nächsten Morgen im Gärtnerschuppen. Crystal hatte Würgemale am Hals, und man hatte dreimal auf sie eingestochen. Ihr Kleid war bis zur Taille hinaufgeschoben, der Oberkörper entblößt.‹«
»Die Untersuchungen ergaben keine Hinweise auf sexuelle
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