Todesküste
kehrte in sein Büro zurück. Die Überraschung war
seinem Vorgesetzten gelungen. Natürlich hatte er schon lange auf die
Beförderung gewartet, wusste aber auch um die Schwierigkeiten. Zunächst wollte
er Margit anrufen und ihr die gute Nachricht zukommen lassen. Dann überlegte er
es sich noch einmal. Nein! Er würde vor der Heimfahrt einen Blumenstrauß
besorgen und seine Familie überraschen. Am besten wäre es, wenn er alle sechs
zum Lieblingsitaliener einladen und dort von der Neuigkeit berichten würde.
Lüder ertappte sich dabei, dass er unkonzentriert in
den nüchternen Vernehmungsprotokollen blätterte. Er war dankbar, als er durch
das Telefon abgelenkt wurde.
»Diether.«
»Hallo, Herr Dr. Diether«, begrüßte er den Oberarzt am
Institut für Rechtsmedizin.
»Wir haben hier einen merkwürdigen Fall. Ich bin mir
nicht sicher, ob es Sie interessieren könnte. Wir haben einen männlichen Toten
eingeliefert bekommen. Eindeutige Schussverletzung.«
»Das ist nicht unser Gebiet. Dafür gibt es die
Bezirkskriminalinspektionen.«
»Das ist richtig«, sagte der Rechtsmediziner.
»Trotzdem. Ich bin schon eine ganze Weile im Geschäft. Aber so etwas ist mir
noch nicht untergekommen. Das Opfer hat einen Einschuss, aber kein Ausschussloch.«
»Das soll vorkommen.«
»Schon. Aber in diesem Fall gibt es kein Geschoss im
Körper des Toten.«
Lüder lachte auf. »Ich habe schon viele wundersame
Geschichten vom blauen Montag gehört. Angeblich sollen Waren, die am Montag
hergestellt werden, störanfälliger sein als andere. Aber dass auch die
Rechtsmedizin ihren blauen Montag hat, ist neu für mich.«
»Offenbar ist das so«, erwiderte Dr. Diether. »Und da
ich bisher kein Geschoss finden konnte, fiel mir nichts Besseres ein, als die
Polizei anzurufen und zu bitten, mir bei der Suche behilflich zu sein. Ich gebe
sozusagen eine Vermisstenanzeige auf.«
»Es ist nicht Ihr Ernst, dass ich Ihnen bei der
Obduktion assistieren soll?«
»Doch. Ich gehe davon aus, dass Sie am heimischen Herd
schon einmal ein Hähnchen tranchieren mussten.«
»Und Sie sind der Überzeugung, diese Fertigkeiten
reichen aus, um eine Leiche zu sezieren?«
»Sicher«, entgegnete der Arzt ungerührt. »Wir sind das
einzige Fach in der Humanmedizin, in dem sich noch nie ein Patient über einen
Behandlungsfehler beschwert hat.«
»Schön«, sagte Lüder. »Brauche ich einen
Überweisungsschein? Oder darf ich auch so zu Ihnen kommen?«
»Da ich annehme, dass Sie Privatpatient sind, erhalten
Sie sofort einen Termin«, sagte der Arzt lachend und legte auf.
Eine halbe Stunde später parkte Lüder vor dem
unscheinbaren Gebäude in der Arnold-Heller-Straße. Das Institut für
Rechtsmedizin war der Christian-Albrechts-Universität angeschlossen.
Dr. Karl-Heinz Diether begrüßte ihn. Wegen seines
gutmütig wirkenden Äußeren und des ruhigen Auftretens hätte ein Außenstehender
bei einer zufälligen Begegnung nicht den erfahrenen Wissenschaftler vermutet,
schon gar nicht den Rechtsmediziner. Der Arzt führte ihn in den kalt wirkenden
Arbeitsraum. Es war nicht nur die nüchterne Ausstattung, die Lüder frösteln
ließ.
Auf dem Tisch lag der Leichnam eines mittelgroßen
Mannes, der deutliche Spuren einer gründlichen Untersuchung durch den
Pathologen aufwies. Auf einem rollbaren Beistelltisch standen eine Reihe von
Metallschalen, in denen Lüder mit ein wenig Fantasie ein paar Organe erkennen
konnte.
»Er hieß Steffen Meiners und ist nur vierzig geworden.
Verheiratet. Der Einschuss ist etwa drei Zentimeter unterhalb des Brustbeines
erfolgt und hat im Inneren Böses angerichtet. Sie wissen wahrscheinlich, dass
sich die Soldaten am meisten vor den sogenannten Bauchschüssen gefürchtet
haben. Jedenfalls sind alle Organe in dieser Region in Mitleidenschaft gezogen.
Und in dieser Ecke befindet sich das komplette Zentrum der körpereigenen
Chemiefabrik. Ich glaube nicht, dass er hätte überleben können.«
»Woran ist er gestorben?«
»Die Bauchschlagader wurde verletzt. Der Mann ist
ausgeblutet. Wir haben alles im Bauchraum gefunden. Zumindest das, was die
Kollegen vom Rettungsdienst davon noch übrig gelassen haben.«
»Entspricht das nicht manchem religiösen Kult, wenn
man das Opfer ausbluten lässt?«
Dr. Diether maß Lüder mit einem langen Blick. »Sie
sind ja noch zynischer als wir Pathologen.« Er zeigte auf den Toten. »Seine
Kleidung liegt schon bei Frau Dr. Braun in der Kriminaltechnik. Der Schuss war
nicht direkt aufgesetzt,
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