Todesküste
Zwischendurch warf er einen Blick auf die
Vorgangsmappen, die auf seinem Schreibtisch lagen. Als Nächstes drohte ihm das
Aktenstudium zu einem Fall, in dem ein Unverbesserlicher Vergangenes wieder
auferstehen lassen wollte und sich durch fremdenfeindliche Parolen hervortat.
Lüder warf die Tageszeitung in den Papierkorb und
holte sich noch eine zweite Tasse Kaffee, bevor er sich mit dem leidigen Thema
weiter auseinandersetzen wollte. Als er in sein Büro zurückkehrte, meldete sich
sein Telefon. Im Display sah er, dass der Leiter der Abteilung ihn zu sprechen
wünschte.
»Guten Morgen, Herr Nathusius«, begrüßte er den
Kriminaldirektor.
»Hallo, Herr Lüders. Darf ich Sie einmal zu mir
bitten?«
Kurz darauf betrat Lüder das Zimmer seines Vorgesetzten.
Es unterschied sich in Größe und Ausstattung von den anderen Räumen. Der
rotblonde Kriminaldirektor saß hinter seinem Schreibtisch, der wie immer
aufgeräumt wirkte. Lediglich das Bild seiner Frau Beatrice auf der
Arbeitsplatte ließ Nathusius als einziges persönliches Relikt zu.
»Nehmen Sie Platz«, forderte er Lüder auf. Das gelbe
Hemd mit der passend abgestimmten Krawatte war korrekt bis zum Hals zugeknöpft.
Selbst das braune Sakko hatte der Kriminaldirektor nicht abgelegt. »Wie geht es
Ihnen? Was macht die Familie?«
Lüder berichtete von seiner Patchworkfamilie.
»Was macht mein Freund Jonas?« Nathusius lächelte
vergnügt in sich hinein. »Ich erinnere mich, als Ihre Frau schwanger war und
ich Sie daheim mit einem Blumenstrauß besucht habe, damals, nach dem Fall mit
dem argentinischen Marineoffizier, wie mich Jonas lautstark angekündigt hat: Mama. Da ist ein Liebhaber.«
Auch Lüder musste bei dem Gedanken an dieses Ereignis
lachen. Dann wurde er wieder ernst. »Wenn Sie mich zu sich bitten, gibt es Unangenehmes
zu besprechen.«
Der Kriminaldirektor faltete die Hände und legte sie
vor sich auf die Schreibtischplatte. »Zum Smalltalk habe ich Sie nicht
hergebeten. Das ist richtig. Aber ob es unangenehm ist, wird sich noch
herausstellen. Was macht eigentlich Ihre Promotion?«
Es war ein Thema, das Lüder nicht behagte. Seit
mehreren Jahren schrieb er, der studierte Jurist, an seiner Doktorarbeit. Immer
wieder gab es Gründe, die ihn am Abschluss hinderten. Und wenn er für sich
selbst feststellte, dass er wieder einmal »aus dem Thema gekommen war«, griff
er freudig nach jeder passenden Gelegenheit, um sich ein weiteres Mal vor der
Fertigstellung zu drücken. Allerdings hatte Margit ihn im letzten Jahr
energisch zur Erledigung dieser Aufgabe gedrängt.
»Ich bin am Ball«, erwiderte Lüder ausweichend.
»Die beiden Buchstaben vor dem Namen sind für eine
Karriere in einer Landesbehörde durchaus förderlich. Sie sind jetzt …«
»Einundvierzig«, antwortete Lüder.
»Da wird es langsam Zeit, sich über die nächsten
Sprossen auf der Leiter nach oben Gedanken zu machen.«
»Beim chronischen Geldmangel von Väterchen Staat gibt
es wenig Aussichten auf Beförderungen. Der Stellenkegel ist nach oben recht
dünn.«
»Da haben Sie leider recht.« Ein Hauch Resignation lag
in Nathusius’ Stimme. »Es waren bestimmt nicht mangelnde Leistungen, weshalb
Sie bisher noch nicht befördert wurden. Aber man hat die Mittel für die Polizei
rigoros zusammengestrichen. Das liegt sicher auch daran, dass wir keine
politische Lobby wie andere Beschäftigungsgruppen im öffentlichen Dienst haben.
Aber!« Der Kriminaldirektor schwieg einen Moment bedeutsam. »Meine Anträge auf
Beförderung sind in der Vergangenheit nahezu pauschal abgelehnt worden.
Insbesondere für den höheren Dienst. Ich habe vor Kurzem aber erneut einen Vorschlag
eingereicht. Man hat mir signalisiert, dass Sie dran wären. Noch ist es nicht
amtlich, aber ich gehe davon aus, dass Ihrer Beförderung zum Kriminaloberrat
nichts mehr im Wege steht. Das wollte ich Ihnen als gute Nachricht zum
Wochenanfang mitteilen. Gibt es sonst noch etwas?«
Lüder war einen Augenblick sprachlos. »Danke«,
murmelte er schließlich. Das war wirklich eine Überraschung. Er wusste, dass
sich Nathusius stets rückhaltlos für seine Mitarbeiter einsetzte, aber über
Beförderungen wurde an anderer Stelle entschieden. Dann berichtete er in
knappen Worten von seinen aktuellen Fällen.
»Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg«, sagte der
Kriminaldirektor zum Abschied. Lüder war schon an der Tür, als er ihm
hinterherrief: »Und sehen Sie zu, dass Sie endlich Ihre Doktorarbeit
abschließen.«
Lüder
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