Todesküste
Schüler der Meldorfer Gelehrtenschule
tätlich angegriffen hatte, die ihn mit »sozialistischen Sprüchen«, wie er es
nannte, gereizt haben sollten.
Bis auf ein paar blaue Flecken war niemand ernstlich
zu Schaden gekommen. Da die Umtriebe Merseburgers aber von einer gewissen
Konstanz waren, hatte man den Vorgang zur Abgabe einer Einschätzung an den
Polizeilichen Staatsschutz geschickt.
Nach allem, was Lüder den Akten entnehmen konnte, war
der vierunddreißigjährige Mann aus Brandenburg alles andere als ein
gefährlicher Aktivist. Er lebte mit drei Gleichgesinnten auf einem
heruntergekommenen Bauernhof in Wichelwisch, einem winzigen Straßendorf im
Speicherkoog. Der heute arbeitslose gelernte Landwirtschaftsgehilfe hatte, so
die Aktenlage, früher schon einmal versucht, zu politischen Gruppierungen am
rechten Rand Kontakt aufzunehmen. Doch wegen seines offenbar niedrigen
Intelligenzquotienten wollte man ihn und seine Freunde selbst dort nicht haben.
Lüder sah in dem Mann keine Gefahr für die Sicherheit des Landes, legte die
Akte aber trotzdem an die Seite, weil er zur endgültigen Einschätzung noch
weitere Überlegungen anstellen wollte. Den Rest würden dann die örtlichen
Polizeibehörden und die Staatsanwaltschaft übernehmen.
Dann griff er zum Telefon und rief zu Hause an. Die
gute Nachricht, die ihm der Kriminaldirektor zugetragen hatte, wollte er nun
doch weitergeben.
Niemand meldete sich. Die drei Großen waren in der
Schule, und Margit erledigte mit Sinje die Einkäufe. Lüder war ein wenig
enttäuscht. Gedankenverloren hielt er den Hörer in der Hand. Dann rufe ich bei
der Kripo in Itzehoe an, überlegte er und ließ sich mit dem K1 verbinden.
»Hauptkommissar Schwälm ist bei einem Einsatz«,
erklärte ihm eine weibliche Stimme ausweichend, die ihre Herkunft aus der
Elbmarsch nicht verhehlen konnte. Immerhin gab sie Lüder die Handynummer.
Der Leiter der Mordkommission musste sein Mobiltelefon
in der Hand gehalten haben, so schnell nahm er das Gespräch an, nachdem Lüder
gewählt hatte.
»Es geht um den mysteriösen Mord auf dem Heider
Marktfrieden«, erklärte Lüder, nachdem er sich vorgestellt hatte. Dann
berichtete er von seinem Besuch in der Rechtsmedizin.
»Vielen Dank für die Information auf dem kurzen
Dienstweg«, sagte Schwälm. »Die Art des Schusses ist uns im Augenblick noch ein
Rätsel. Zumindest ist es unstrittig, dass der Mann ermordet wurde.«
»Haben Sie schon Anhaltspunkte, welches Motiv
vorliegen könnte?«, hakte Lüder nach.
»Wir sind am Ball«, antwortete der Hauptkommissar
ausweichend. »Interessiert sich der Staatsschutz für den Fall?«
»Eigentlich nicht«, wiegelte Lüder ab. »Es ist eher
persönliche Neugierde, weil es ungewöhnlich klingt, dass jemand mit einem
Sandklumpen erschossen wird.«
Diese Erklärung ließ Schwälm gelten.
»Sind Sie im Augenblick in Dithmarschen?«
»Wir sind überall präsent«, antwortete der
Hauptkommissar ausweichend.
»Ich muss nach Wichelwisch. Das ist einen Steinwurf
von Meldorf entfernt. Vielleicht können wir uns irgendwo auf eine Tasse Kaffee
treffen?«
»Schön«, willigte Schwälm ein. »In einer Stunde in
Meldorf. Kennen Sie den Meldorfer Dom?«
Lüder bejahte. Unweit der Backsteinbasilika, die zu
keiner Zeit Bischofssitz war, hatte er vor einem Jahr das Notariat Windgraf
aufgesucht. Der Sohn des Kanzleichefs war damals als Staatssekretär in Kiel
überraschend zurückgetreten und spurlos verschwunden.
»Dort gibt es ein Café. Da Sie Kollege sind, brauchen
wir kein Erkennungsmerkmal zu vereinbaren«, schloss Schwälm.
Lüder suchte noch einmal das Büro des
Abteilungsleiters auf. Aber der Kriminaldirektor war noch nicht von der
Dienstbesprechung zurückgekehrt. Dann fuhr er mit seinem BMW quer durch das nördlichste
Bundesland an die Westküste. Er genoss es zuweilen, auf den gut ausgebauten
Straßen Schleswig-Holsteins die ruhige Landschaft zu erleben. Saftiges offenes
Grün wechselte mit kleinen Buschgruppen und Gehölzen ab. Die friedlich auf den
Weiden grasenden Schwarzbunten waren erfrischende Farbtupfer. Gelegentlich tauchte
eines der weit auseinanderliegenden sauberen Dörfer auf, in denen manchmal die
Zeit stehen geblieben zu sein schien. Wenn man die Landschaft auf diese Weise
durchfahren hatte, erschien Dithmarschens Metropole Heide mit den knapp über
zwanzigtausend Einwohnern fast schon eng, und fünf Fahrzeuge an der roten Ampel
waren nahezu ein Stau. Lüder fuhr am Marktplatz vorbei, der als der
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