Todesläufer: Thriller (German Edition)
William Jay Gaynors bedeutete er den beiden Männern in Zivil, auf Abstand zu bleiben. Ein leichter Schauer überlief ihn, als er die in den Stein gehauene Inschrift las. Gaynor war der einzige New Yorker Bürgermeister, auf den je ein Attentat verübt worden war. Erst drei Jahre später hatte die Kugel, die in seinem Hals steckengeblieben war, seinem Leben und damit auch seinem Ehrgeiz, Präsident zu werden, ein Ende gesetzt.
Rasch verjagte Wendell dieses aus der Vergangenheit emporgestiegene düstere Vorzeichen.
»Roy, ich höre.«
»Guten Tag«, drang die jugendlich klingende Stimme von Adrian Salz’ Assistenten durch den Hörer. »Haben Sie die Aufnahme bekommen, die ich Ihnen heute Nacht habe zukommen lassen?«
»Ja. Das ist mehr, als ich brauche. Wissen Sie zufällig, ob Dr. Benjamin Cooper in nächster Zeit aufsuchen wird?«
»Nicht dass ich wüsste. Allerdings war der Präsident sichtlich erschüttert, als man Minister Ford rausgeholt hat.«
»Kann ich mir denken … Sagen Sie mir Bescheid, wenn der Arzt doch kommen sollte.«
»Auf jeden Fall.« Er zögerte. »Ich …«
»Ja?«
»Ich wollte mich vergewissern, dass unser Abkommen noch gilt, angesichts der besonderen Umstände, die …«
»Ich bin nicht undankbar, Patrow. Sobald ich im Weißen Haus bin, werden auch Sie den Ihnen zustehenden Platz bekommen. Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf.«
Wendell beendete das Gespräch ohne Abschiedsgruß. Einer der beiden Personenschützer signalisierte ihm mit zwei an seinen Ohrhörer gelegten Fingern, dass er im Gebäude verlangt werde. Wendell kam der Aufforderung schwungvoll nach. Es gab gute Nachrichten, sogar sehr gute. Jetzt fühlte er sich für das ihm bevorstehende Fernsehinterview bestens gerüstet.
»Sarah! Ich freue mich, Sie in Fleisch und Blut vor mir zu sehen.«
Er hielt der Journalistin mit gewinnendem Lächeln die Hand hin.
»Mir geht es ebenso. Wenn Sie mir bitte folgen wollen. Wir haben die Kamera vor der Monitorwand in Stellung gebracht.«
»Glänzender Gedanke.«
Dort nahm er im grellen Licht der Scheinwerfer die würdevollste Miene an, die ihm zu Gebote stand. Auf keinen Fall durfte er zeigen, welch unbändiger Jubel in seinem tiefsten Inneren herrschte.
Mit dem Mitschnitt des Gesprächs zwischen Präsident Cooper und dessen Leibarzt in der Tasche, der den erdrückenden Beweis dafür lieferte, dass der scheidende Präsident die Öffentlichkeit über seinen Gesundheitszustand im Unklaren gelassen hatte, hatte er jetzt auf dem Weg nach Washington freie Bahn. Er brauchte nur die Unwahrheiten und Irreführungen seines Gegenspielers zum richtigen Zeitpunkt bekannt zu machen und würde damit dem »Cooper-Effekt« endgültig ein Ende bereiten. Es würde ein leichter Sieg werden.
»Sind Sie bereit, Bürgermeister?«
»Wir können«, bestätigte er mit einem knappen Lächeln.
»Auf geht’s, Jungs …«, gab die Journalistin ihren Leuten das Signal. »Edgar Wendell, guten Tag.«
»Guten Tag.«
»Wir befinden uns in Brooklyn, im Sitzungsraum des Krisenstabs der Stadt New York, von wo aus Sie jede Bewegung der ›Todesläufer‹ in unserer Stadt genau verfolgen. Können Sie uns sagen, was da geschieht, Mr. Wendell?«
»Ja, aber wenn Sie gestatten, möchte ich zuvor etwas zu dem Ausdruck ›Todesläufer‹ – oder wie sie auch genannt werden: ›Todesmarschierer‹ – sagen.«
Auch er hatte für jede Gelegenheit ein ganzes Arsenal von Gesichtsausdrücken zur Verfügung. Die gramvolle Miene Nummer zwei passte hervorragend zur plastischen Schilderung einer historischen Tragödie.
11 UHR 00 – NACHRICHTEN AUF ABC WORLD NEWS
»Ja, aber wenn Sie gestatten, möchte ich zuvor etwas zu dem Ausdruck ›Todesläufer‹ – oder wie sie auch genannt werden: ›Todesmarschierer‹ – sagen.«
ABC hatte das Interview eine halbe Stunde später in den Nachrichten gesendet. Zum zweiten Mal in nicht einmal achtundvierzig Stunden hatte Edgar Wendell das Kunststück fertiggebracht, diesen Sender zur besten Stunde für seine Zwecke einzuspannen. ABC World News war eins der mächtigsten Sprachrohre Amerikas, dessen Stimme bis in die hintersten Winkel des Landes drang.
Wenn es ihm gelang, die Medien weiterhin auf diese Weise für sich arbeiten zu lassen, während sich sein Konkurrent um das höchste Amt im »Bunker« des Weißen Hauses verschanzte, ohne der Krise lautstark und wirkungsvoll entgegenzutreten, brauchte er unter Umständen nicht einmal seinen so wenig ehrenhaften Trumpf
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