Todesläufer: Thriller (German Edition)
engen Innenraum und enthob sie der Notwendigkeit, miteinander zu reden. Von Zeit zu Zeit beugte sich Benton ein wenig vor, um seinen Kollegen im Innenspiegel zu betrachten. Er suchte nach Spuren tiefer Bestürzung auf dessen Zügen. Dafür, dass der Mann soeben sein einziges Kind verloren hatte, war er bemerkenswert gefasst. Keine Tränen. Kein von Qual verzerrtes Gesicht. Kein zuckendes Kinn. Sein Drama spielte sich vollständig im Inneren ab, hinter verschlossenen Türen. Es ist mein Unglück, Eintritt verboten.
Er suchte nach Worten, besann sich jedoch wieder anders und begnügte sich mit einem Seufzer oder einem tieferen Atemzug.
Sam brach als Erster das Schweigen: »Wir brauchen nicht darüber zu reden.«
Er hatte das ohne erkennbare Gefühlsbewegung gesagt. Sein Blick glitt über die regennassen Gehwege, er hielt Ausschau nach noch so unbedeutenden Dingen, nach allem, was die Bilder verjagen konnte, die ihn quälten.
»Ich weiß … ich finde bei so etwas nie die richtigen Worte. Tut mir leid.«
Ein Anruf aus dem FBI -Büro bot Benton eine willkommene Gelegenheit, das Thema fallen zu lassen. Notgedrungen stellte er die Musik leiser.
»Ja, Lance …«
»Soll ich schon mal mit der Identifizierung der Iraner anfangen, Chef?«
»Warte noch ein bisschen. Wenn ich in einer Stunde nicht da bin, kannst du loslegen. Du hast mein Einverständnis.«
»Henriksen ist wieder da. Er möchte weitere Funkwellengeneratoren herbringen lassen, die im Stadtgebiet verteilt werden sollen, um möglichst viele Läufer zu deaktivieren. Wie soll ich mich verhalten?«
»Gib ihm grünes Licht für alles, was er in dem Zusammenhang tun will. Wir sehen dann später zu, wie wir das im Etat unterbringen.«
»Und wie machen wir das mit der Einweisung der NYPD -Beamten?«
»Klär das mit Kovic. Er weiß Bescheid. Ich hab vorhin mit ihm gesprochen. Die Einheiten sind bereits informiert.«
»Außerdem liegen hier Anforderungen von anderen Dienststellen. Sie beschweren sich, dass wir auf eigene Faust handeln, sie nicht informieren – ihr übliches Gewinsel … Was soll ich denen sagen?«
»Die sollen zusehen, wie sie das im Rahmen der Möglichkeiten ihrer Labors selbst stemmen. Kommt gar nicht in Frage, dass wir dem ganzen Land Entschärfungssätze zur Verfügung stellen. Wir haben für sie die Lösung gefunden, da müssen wir denen jetzt nicht auch noch den Hintern abwischen!«
Jeder soll sich um seine eigene Scheiße kümmern, kommentierte Sam in Gedanken Bentons skatologische Metapher.
Der FBI -Mann beendete das Gespräch und drehte den Ton wieder lauter. Es bereitete ihm ein offenkundiges Vergnügen, die Basslautsprecher in den Türen ordentlich vibrieren zu lassen.
Jump! Jump! Jump! Jump!
»Wie wollen Sie die Läufer davon überzeugen, dass sie sich für das Verfahren zur Verfügung stellen?«, fragte Sam, der allmählich aus der Reserve kam. »Die Leute trauen niemandem mehr.«
»Ihre Kollegen vom NYPD machen Durchsagen über Lautsprecher. Aber wenn man bedenkt, was die Leute in der Brust haben, dürfte es schwerfallen, jemanden zu zwingen, der sich nicht freiwillig darauf einlässt.«
Spuren des in der Stadt herrschenden Chaos unterstrichen seine Worte. Überall sah man eingeschlagene Schaufensterscheiben, auf der Straße verstreute Waren, rauchende Bombentrichter mitten im Asphalt … und keine Menschenseele, wenn man von den Schatten einmal absah, die sich verflüchtigten, kaum, dass man sie gesehen hatte, immer bereit, ebenso rasch zu verschwinden wie die Schaben, von denen es dort wimmelte.
Sam griff Benton ins Steuer. »Halten Sie an.«
»Nein, warum?«
»Der Regen hat so gut wie aufgehört.«
»Ja, und?«
»Mit Herumfahren findet man niemanden. Die Straßen sind leer. Jeder, der nicht gefunden werden will, hört uns kilometerweit.«
Da Benton nicht verstehen wollte, schob Sam sein Bein am Schalthebel vorbei, trat mit seinem ganzen Gewicht auf Bentons linken Fuß und brachte den Wagen so mit einem letzten ärgerlichen Aufmucken des Motors irgendwo südlich des East Village an der Second Avenue zum Stehen.
In Bentons Miene spiegelte sich sein innerer Konflikt. Unter normalen Umständen wäre er Sam an die Kehle gefahren. Aber ein letzter Rest von Anstand und Mitgefühl hinderte ihn daran. Vermutlich ging ihm etwas in der Art von »Man schlägt keinen Mann, der soeben seine Tochter verloren hat« durch den Kopf, auch wenn er das nicht sagte.
Sam stieg aus dem Wagen, und so blieb Benton nichts anderes übrig,
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