Todeslauf: Thriller (German Edition)
Stimme.
Ein Typ eilte auf mich zu. Ich erstarrte. Er schien für eine Reederei zu arbeiten und hielt einen Strichcodeleser in der Hand. »Wo ist denn hier das nächste Klo, Mann?«, fragte er. »Ich bin heute den ersten Tag hier – und der Hafen ist so verdammt groß.«
Ich zeigte mit dem Kopf auf das nächste Gebäude und hoffte, dass es stimmte.
»Danke«, sagte er und ging hinüber.
Ich sah ihm nach, wie er zu dem Gebäude ging. Ich durfte mir nicht zu viel Zeit lassen mit meiner Suche nach einem geeigneten Plätzchen. Falls dort nun keine Toilette war – würde er sich dann an mich erinnern? Ja, der Typ hat mich zu einem Haus geschickt, wo es gar kein Klo gab. Nein, ich hab nicht drauf geachtet, ob er ein Namensschild hatte …
Ich wusste immerhin, was für eine Art Container ich suchte. An den Seiten waren sie stets mit einer Kennzeichnung des Reeders und einer Nummer versehen. Container wurden laufend gekauft und verkauft; ich sah an einigen, dass die alten Kennzeichnungen durch neue ersetzt worden waren.
Die meisten Container sollten eigentlich mit Sicherheitssiegeln ausgestattet sein, doch ich sah immer wieder, dass irgendwo ein Siegel aufgebrochen herunterhing. Auch das entspricht gar nicht dem Bild gediegener Solidität aus Schlössern und Plomben, das die Politiker der Öffentlichkeit vermitteln. Das Siegel ist oft ein Plastikstreifen von der Größe eines Armbands, wie man es im Krankenhaus bekommt. Ich sah einige Container, an denen überhaupt kein Siegel mehr war; es passiert wahrscheinlich sehr leicht, dass beim Verladen der Plastikstreifen abreißt.
Und das wird so gut wie gar nicht überprüft; es kümmert einfach niemanden. Die Handelsströme dürfen nicht behindert werden.
Eine Reihe von großen Schiffen lag vor mir, die, wie ich den Aufschriften entnahm, einer Reederei mit Sitz in Rotterdam gehörten. Damit konnte ich leben. Leider stand auf den Containern, die nach England gingen, nicht in großen Leuchtbuchstaben London. Aber ich hatte immerhin die Chance, im Trubel des größten europäischen Hafens zu entwischen. Ich wählte einen Container ganz unten, weil man ihn zuletzt auf das Schiff verladen würde. Die Fracht interessierte mich herzlich wenig, solange es sich nicht um Schlangen oder Skorpione handelte.
Das Siegel war intakt; ich schnitt es mit meinem Messer durch, aber nicht sauber, sondern mit gezackten Rändern, sodass es nach einem Transportschaden aussah. Ich öffnete die Tür, schlüpfte hinein und machte hinter mir zu.
Das Ganze dauerte knapp fünf Sekunden. Ich kniete mich zur Tür und lauschte. Ich wartete auf eilige Schritte in meine Richtung, doch da waren nur die ganz normalen Geräusche des Hafens, das Knirschen und Kreischen von Containern über mir, die einer nach dem anderen hochgehoben wurden. Ich kramte in meinem Seesack nach der Taschenlampe, knipste sie an und sah mich um. Stapel von Kisten. Ich hatte fast ein bisschen erwartet, der Container wäre leer – denn was produziert Amerika heute noch, das der Rest der Welt braucht? Vielleicht würde ich Subprime-Hypotheken oder irgendwelche anderen Finanzprodukte hier drin finden.
Ich begutachtete eine Reihe von Kisten mit der Aufschrift CLEAN-PAK HAND WIPES. Auf anderen las ich VER-MONTER HERBAL SOAPS HANDMADE IN USA, mit dem stilisierten Bild einer Farm in New England. Ich würde acht bis zehn Tage nicht aus dem Container herauskommen; bei so viel Seife würde ich wenigstens besser riechen, als man es nach zehn Tagen ohne Dusche vermuten sollte.
Ich hockte mich hin und wartete, bis ich irgendwann spürte, wie der Container in die Höhe ging, wie er Richtung Meer schwenkte und dann langsam heruntergelassen wurde.
Ich lehnte mich an eine Kiste mit Seife aus Vermont, hüllte mich in eine Decke und schlief.
19
Zehn Tage in einer stählernen Kiste. Keine Möglichkeit, sich irgendwie die Zeit zu vertreiben, außer mit Nachdenken und Pläne schmieden. Man braucht sich nur vorzustellen, man wäre zehn Tage aus der Welt, ohne Telefon, Internet oder Fernsehen. Ich war völlig abgeschnitten von der Kommunikationsflut des modernen Lebens. Die Stille würde vielleicht so manchen verrückt machen, aber ich fand sie angenehm. Das einzig Gute an dem Gefängnis in Polen waren die langen Zeiten der Stille gewesen, nachdem ich die Verhöre der ersten Wochen hinter mir hatte, als ich ganz allein war mit den Steinwänden, die mich umgaben. Man weiß es heute kaum noch zu schätzen, einfach nur Zeit zum Nachdenken zu haben.
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