Todeslauf: Thriller (German Edition)
identifizierte elektronische Teile. Ich las weiter; man hatte offenbar Bruchstücke im Rucksack gefunden, die nicht von einem Handy stammten. Da war ein halb geschmolzenes Gitter, nicht größer als eine Hand – wie eine Bienenwabe aus Metall. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Offenbar war das Ding bei der Explosion durch die Bücherkiste und in die Eingeweide eines der Opfer geschleudert worden, sodass es einigermaßen intakt geblieben war.
Die Polizei wusste noch nicht, worum es sich bei dem Gegenstand handelte, und das beunruhigte mich.
Nebenan ging das Schnarchen wieder los, doch es dauerte nur kurz, dann kamen raschelnde Geräusche vom Bett. Ich wartete, bis es still wurde – aber das Schnarchen setzte nicht erneut ein. Ich blickte aus dem Fenster. Vier Stockwerke unter mir sah ich die Markise des Cafés.
Ich wartete. Nichts regte sich. Vielleicht war die Frau aufgewacht und starrte an die Decke. Ich sah nach der Festplatte, die ich angeschlossen hatte; der Kopiervorgang war zur Hälfte fertig. Vielleicht war Nics Mom das leise Klicken der Tastatur gewöhnt, und sie dachte, dass Nic zu Hause sei.
Ich ging die Informationen über die Leute durch, die bei der Explosion gestorben waren. Bei den vier Niederländern handelte es sich um die Kassiererin und drei Kunden – ein neunzehnjähriges Mädchen, ein fünfundvierzig Jahre alter Mann, eine fünfzigjährige Frau und ein siebenundzwanzig Jahre alter Mann. Sie waren Ehefrauen und Ehemänner, Väter und Töchter, Freunde. In den elektronischen Dossiers fand sich jeweils ein Foto aus einem Führerschein oder Reisepass.
Die Akte über den Russen war leer bis auf den Autopsiebericht. Kein Name, kein Alter, keine Passnummer, kein Foto.
Schon sehr merkwürdig. Die Amsterdamer Polizei, die zu den besten der Welt gehörte, hatte keinerlei Anhaltspunkte, wer das fünfte Opfer war. Das erstaunte mich.
Ich sah die übrigen Akten durch, die Nic aus der Polizeidatenbank gestohlen hatte. Da war ein Video mit der Bezeichnung toezicht, versehen mit dem Datum vom Tag der Explosion. Toezicht bedeutete Überwachung. Ich startete das Video.
Die Bilder der Sicherheitskamera gingen zu einer zentralen Sicherheitsstation; hätte das Bildmaterial den Laden nicht verlassen, so hätte es die Detonation wahrscheinlich nicht überstanden. Nic hatte fünf Minuten dieses Materials aus dem Polizeiserver geholt.
Ich verfolgte die letzten Momente im Leben von fünf unschuldigen Menschen.
Die junge Kassiererin gab mit leicht gelangweilter Miene Wechselgeld heraus. Sie kratzte sich immer wieder am Ohr. Die meisten Kunden blieben nicht lange. Yasmin war nirgends zu sehen, was bedeutete, dass sie die Bombe zu diesem Zeitpunkt bereits platziert hatte. Dutzende Leute gingen in dem Laden ein und aus – es war fast ein Wunder, dass nicht mehr Menschen ums Leben gekommen waren. Ich sah einen Mann vor dem Zeitungsständer stehen bleiben. Er griff nach einer Zeitung, und dann verschwand das Bild in einem weißen Blitz.
Ich ging noch einmal zu diesen letzten Augenblicken zurück und hielt das Bild an. Es waren fünf Personen im Geschäft; die vier Niederländer erkannte ich von den Fotos in den Akten. Der tote Russe musste der Mann sein, der nach der Zeitung griff, als die Bombe hochging. Ich ließ die Aufnahme Sekunde für Sekunde rückwärts laufen. Der Mann trat vom Zeitungsständer weg. Er war im Profil zu sehen, das Gesicht leicht abgewandt. Er machte einen Schritt zurück zum Zeitschriftenständer. Dann drehte er sich zur Kamera, und ich sah sein Gesicht.
Ich kenne ihn. Das kann nicht sein.
37
Hinter mir auf dem Flur öffnete sich eine Tür. Ich hörte nackte Füße über den Holzboden tappen.
»Nic? Ben je wakker?« Bist du wach?
»Ja«, rief ich, Nic so gut wie möglich imitierend, zurück. Ich musste weg. Ich zog die Festplatte heraus und hörte, wie die Badezimmertür geschlossen wurde. Das Rauschen von Wasser im Waschbecken, dann die Toilettenspülung. Die Dusche wurde aufgedreht. Und plötzlich ging die Wohnungstür auf.
Nic war nach Hause gekommen.
Vorne konnte ich nicht mehr hinaus. Um keine Spuren meiner Anwesenheit zu hinterlassen, loggte ich mich rasch aus und schaltete den Bildschirm in den Ruhezustand zurück.
Ich stieg mit einem Bein aus dem Fenster. Ich hörte immer noch die Dusche rauschen und hoffte, dass Nic nicht geradewegs in sein Zimmer gehen würde. Vorsichtig stieg ich hinaus auf den Fenstersims.
Es gab keinen Weg hinunter; ich blickte nach oben. Ein
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