Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
blieb am zweiten Namen hängen. Anstelle der metallenen Schilder, auf denen die Namen der anderen Bewohner standen, war der Name an dieser Tür mit Füllfederhalter auf ein vergilbtes Stück Papier geschrieben; die Handschrift erkannte sie unmittelbar wieder. Es war dieselbe wie im Brief.
Marie Cuvelier. Ella nahm ihren Mut zusammen und klingelte. Sie hörte sofort, dass sich auf der anderen Seite der Tür jemand bewegte. Sie trat einen kleinen Schritt zurück und hielt die Luft an. Eine Frau um die fünfzig öffnete die Tür. Die Frau war klein und zierlich, hatte jedoch volles krauses rotes Haar. Sie war hübsch, doch ihre Gesichtszüge wirkten irgendwie unnatürlich. Ihre Augen waren groß und sorgfältig geschminkt, und ihre Wangenknochen stachen wie bei einem Totenkopf hervor. Die Frau lächelte neugierig und blickte Ella fragend an. Ella bemerkte, wie sich die Haut um ihre Mundwinkel herum unnatürlich spannte, wenn sie lächelte, und kam zu dem Schluss, dass sie sich bestimmt wiederholte Male plastischen Operationen unterzogen hatte. Sie korrigierte ihr Alter rasch, indem sie gut zehn Jahre hinzufügte.
Ella wollte nicht unnötig viel von ihren Absichten preisgeben, sondern erklärte ganz einfach, dass sie nach einer Person suche, die Kontakt zu ihrem Vater gehabt hatte, während er sich in den 70er Jahren wiederholt in Paris aufgehalten hatte. Ella sprach englisch, was für Frau Cuvelier kein Problem darzustellen schien. Ihr Englisch hatte einen angenehmen französischen Akzent, war jedoch grammatisch fehlerfrei. Es war schwer, sie nicht unmittelbar zu mögen. Frau Cuvelier oder Marie, worauf sie nach zweiminütigem Gespräch im Türrahmen bestand, schlug vor, gemeinsam Mittagessen zu gehen, um sich nicht in ihrer unaufgeräumten Wohnung aufhalten zu müssen. Als Ella sie fragte, ob sie einen Frederick Andersson kannte, lächelte sie nur und meinte, dass dies wohl doch noch ein ganz interessanter Tag werden würde.
Ella wartete im Flur, während Marie sich zurechtmachte. Ihr gelang es, einen Blick ins Wohnzimmer zu werfen, das keineswegs unaufgeräumt war, wo aber haufenweise Kleidung herumlag. Es sah aus, als wäre Marie dabei, ihren Kleiderschrank auszusortieren. Kurz darauf stand sie wieder im Flur. Sie hatte sich ein enganliegendes rosafarbenes Kostüm angezogen, einen braun-gold gemusterten Schal über die Schultern geworfen und sah ungemein elegant aus. Sie ging vor Ella die Treppe hinunter. Ihre Schritte waren behände, und ihr Umgang mit den schiefen Treppenstufen deutete darauf hin, dass sie bereits seit ansehnlicher Zeit im Haus wohnte. Sie setzten sich in das Restaurant, das im Erdgeschoss desselben Gebäudes lag, und das Personal begrüßte Marie vertraut, die allen zulächelte, während sie sich flüsternd an Ella wandte.
»Alle hier wissen, dass ich reichlich Trinkgeld gebe.«
Ella bestellte pro forma ein Pastagericht, während Marie einen Salat wählte. Ella war nach dem ausgiebigen Frühstück eigentlich immer noch satt, doch es wäre ihr unhöflich vorgekommen, Marie beim Essen keine Gesellschaft zu leisten. Marie hatte offenbar auch eine Flasche Rotwein bestellt, die zu Ellas Erstaunen an ihrem Tisch entkorkt wurde. Es war nicht viel später als dreizehn Uhr, als sie den Wein verkosteten.
»Jetzt lassen Sie mal hören, was Sie auf dem Herzen haben, meine Liebe«, sagte Marie in ihrem französisch eingefärbten Englisch, als sie ihr Weinglas wieder abgestellt hatte.
»Mein Vater, Frederick Andersson, wohnte während der 70er Jahre zeitweise in Paris«, begann Ella. »Nach Aussage meiner Mutter hatte er während dieser Zeit eine Geliebte hier. Eine Geliebte, die ihm im Dezember 1975 einen Liebesbrief schrieb; meine Mutter hat diesen Brief gefunden.«
Marie schlug in einer resignierten Geste mit den Armen aus.
»Tja, wenn ich mich doch nur an einen meiner Liebhaber aus den 70er Jahren erinnern könnte«, sagte sie. »Aber Liebesbriefe waren noch nie mein Ding.«
»Der Brief war mit C unterschrieben, und die Adresse auf dem Umschlag lautete Rue de la Verrerie Nummer 1, was mich hierherführte.«
Marie betrachtete Ella nachdenklich. »Sie scheinen mir eine ehrgeizige junge Dame zu sein. Sind Sie etwa auf gut Glück den ganzen Weg hierhergefahren? Warum haben Sie nicht einfach Ihren Vater gefragt?«
»Er starb, als ich sechs Jahre alt war«, antwortete Ella resigniert.
»Oh, das rechtfertigt natürlich Ihre Fragen. Aber wenn der Brief mit C unterschrieben war, warum haben Sie dann an
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