Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
meiner Tür geklingelt?«
»Cuvelier«, antwortete Ella zögerlich.
Maries Gesicht verzog sich zu etwas wie einem Lächeln, aber es wurde eher eine Grimasse.
»Seit wann unterschreibt denn jemand einen Liebesbrief mit seinem Nachnamen?«, fragte sie und gab ein glucksendes Geräusch von sich, das einem Lachen ähnelte.
Ella musste zugeben, dass sie recht hatte. Dann fiel ihr die Handschrift an Maries Tür ein.
»Die Schrift an Ihrer Tür«, begann sie vorsichtig.
»Bezaubernd, nicht wahr?« Marie lächelte, doch ihr Lächeln ging rasch in einen verblüfften Gesichtsausdruck über.
Sie verstummte und schien über etwas nachzudenken. Vielleicht war ihr plötzlich eingefallen, dass sie diesen Brief doch geschrieben hatte, dachte Ella.
»Haben Sie den Brief bei sich, meine Liebe?«, fragte sie dann.
Ella legte den Umschlag vor sie auf den Tisch. Marie ergriff ihn, musste ihn jedoch mit ausgestrecktem Arm von sich weghalten, um lesen zu können, was darauf geschrieben stand. Sie drehte ihn um und betrachtete den Absender. Dann nickte sie. Mit ihren großen Augen betrachtete sie Ella eine Weile, bevor sie schließlich den Mund öffnete.
»Meine Liebe«, sagte sie erneut.
Weiter kam sie nicht, denn in diesem Moment brachte die Bedienung das Essen. Marie trank einige Schlucke Rotwein, während Ella auf ihr Essen schaute und feststellte, dass sie im Moment nicht einmal ans Essen denken konnte. Marie fuhr fort:
»Die Person, die den Brief geschrieben hat, wohnt tatsächlich noch immer hier im Haus. Aber es handelt sich nicht um eine alte Frau wie mich.«
Sie lächelte kurz.
»Es handelt sich um einen älteren Mann. C steht für Christopher.«
Marie machte eine Pause und wartete auf Ellas Reaktion, die allerdings ausblieb. Nicht weil Ella nicht reagierte, sondern weil sie sich nichts anmerken ließ. Sie besaß die Fähigkeit, überraschende Informationen aufzunehmen, ohne dass man es an ihrer Miene erkennen konnte, auch wenn diese Informationen alles umwarfen, was sie zu wissen glaubte. Es war eine Fähigkeit, die sich bei Gerichtsverfahren schon oft als äußerst nützlich erwiesen hatte. Zuweilen kam es vor, dass dem Rechtsmediziner während des Prozesses neue technische Beweise vorgelegt wurden, die die Angaben der Polizei zu Beginn der Ermittlungen widerlegten. Ella gelang es dann, mit neutralem Gesichtsausdruck diese neuen Informationen aufzunehmen und zu analysieren, in welcher Hinsicht sie mit ihren eigenen Befunden übereinstimmten, um daraufhin die Fragen der Staatsanwaltschaft oder der Verteidigung abgeklärt zu beantworten. Doch hier ging es nicht um irgendwelche Fragen. Ella wusste zunächst gar nicht, wie sie Maries Behauptung aufnehmen sollte, und aus diesem Grund spiegelte ihr Gesichtsausdruck ungefähr wider, was sie dachte. Nichts.
»Aus welchem Grund glauben Sie, dass dieser Christopher den Brief geschrieben hat?«, fragte Ella schließlich sachlich. Sie spürte, wie ihr Puls stieg und ihre Wangen sich röteten.
»Christopher Maunier ist einer meiner besten Freunde«, begann Marie vorsichtig. Sie schien zu spüren, dass Ella sich in einem Schockzustand befand. »Er wohnte bereits im Haus, als ich 1973 hierherzog. Das Schild an meiner Tür schrieb er am selben Tag, als ich einzog, und ich verliebte mich auf der Stelle in ihn.«
Marie versuchte breit zu lächeln. Doch in ihrem strammen Gesicht wirkte das eher schmerzvoll.
»Er sah gut aus, war gebildet und teilte mein Interesse für Kunst. In meinen Augen war er der perfekte Mann. Erst nach ein paar Monaten merkte ich, dass wir noch mehr Interessen als diese teilten«, fügte sie hinzu und verzog erneut den Mund. »Ich weiß noch, dass ich furchtbar wütend wurde, als ich ihn zum ersten Mal zusammen mit einem Mann sah. Es war an einem frühen Morgen. Ich war draußen gewesen und hatte frisches Brot gekauft und eins für ihn mit besorgt. Als ich in seine Etage hinaufkam, stand ein junger Mann in seiner Tür. Sie küssten sich. Ich war fassungslos, und mir fiel das Brot aus der Hand. Dann stürzte ich zurück in meine Wohnung.«
Marie schüttelte den Kopf und lächelte.
»Zehn Minuten später klopfte er an meine Tür. Er hatte meine Brottüten bei sich und fragte, ob ich sie vielleicht verloren hätte. Ich weiß noch, wie ich ihn anstarrte – er trug lediglich ein paar lange Unterhosen und ein Hemd und sah fantastisch aus. Ich sagte zu ihm, dass er duftete, als hätte er die ganze Nacht lang gevögelt. Daraufhin lachte er und sagte, dass er
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