Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
ersetzen konnte. Natürlich gab es unter den Anwesenden auch solche, die anderer Meinung waren, aber ihnen wurde nur eine äußerst begrenzte Redezeit in der Debatte eingeräumt, da sie, wie einer der Teilnehmer mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit dargelegt hatte, nur allzu begrenztes Wissen im Bereich der Rechtsmedizin vorweisen konnten, um sich eine fundierte Meinung hinsichtlich dieser Frage bilden zu können. Ella erinnerte sich an ihre eigenen Äußerungen zu ähnlichen Fragen und wie unbeliebt sie sich damit gemacht hatte. Doch in Zentraleuropa schien das Klima ein anderes zu sein. Hier waren Ärzte noch Ärzte, und Bürokraten waren Bürokraten. Die beiden Gruppierungen gingen ihren Beschäftigungen innerhalb ein und derselben Organisation nach, ohne sich mehr als nötig in die Arbeit des anderen einzumischen. Sie fand diese Einstellung recht ansprechend.
Ella wurde durch einen Applaus aus ihren Gedanken gerissen, der die Debatte beendete. Nach der Mittagspause würde eine Anzahl von Doktoranden in Kurzform ihre Forschungsarbeiten präsentieren. Sämtliche Forschungsprojekte standen zwar im Zusammenhang mit der Röntgentechnik, doch die Verbindung zur Rechtsmedizin war für Ella aus den Aushängen der Doktoranden, die vor dem Vortragsaal angeschlagen waren, nicht ganz ersichtlich.
Das Restaurant, in dem das Mittagessen gereicht werden sollte, lag auf der anderen Straßenseite, und die meisten Konferenzteilnehmer ließen ihre Mäntel und Jacken im Vortragssaal hängen. Der vergleichsweise kühle Morgen hatte sich zu einem wunderbaren Frühlingstag mit knallblauem, wolkenlosem Himmel entwickelt. Ella stand auf dem Bürgersteig vor dem Hotel und sah die letzten Teilnehmer ins Restaurant gehen. Mit ihrem Mantel über dem Arm begann sie in die andere Richtung zu spazieren. Denn sie hatte für ihren Besuch in Paris schließlich einen anderen Plan.
Ella nahm den Briefumschlag aus ihrer Schultertasche. Rue de la Verrerie. Sie hatte bereits am selben Tag, an dem sie den Umschlag bekommen hatte, nachgeschaut, wo diese Adresse lag – nämlich im selben Arrondissement wie ihr Hotel, im Marais-Viertel. Dem Stadtplan zufolge gehörte es zum jüdischen Viertel, aber ihr war dort noch kein jüdischer Einfluss aufgefallen. Nachdem sie noch zwei Mal in ihrem Stadtplan nachgeschaut hatte, fand sie die Straße schließlich. Sie war eng und von kleinen Restaurants und Geschäften gesäumt. Sie ging an einer Sushi-Bar und einer kleinen Boutique vorbei, die sich offenbar auf Herrenunterwäsche spezialisiert hatte. Das Haus, das sie suchte, hatte die Nummer eins und lag dort, wo die Straße sich zu einem Platz hin öffnete. Auf dem Platz gab es noch weitere Restaurants, die bereits Tische und Stühle nach draußen gestellt hatten, und an einer Ecke lagen eine Bäckerei und eine Apotheke. Jetzt um die Mittagszeit herum war der Platz voller Leben. Sie näherte sich mit gedämpften Erwartungen der eleganten Holztür an der Rue de la Verrerie Nummer eins. Ihr war nur allzu bewusst, wie unwahrscheinlich es war, dass ihr Versuch Erfolg haben würde. An der Haustür waren um die zwanzig Namen neben kleinen Messingklingeln angebracht. Drei der Nachnamen begannen mit C: N. Cotillard, M. Cuvelier und D. Cassel. Zwei weitere trugen die Initiale C im Vornamen: C. Seigner und C. Maunier. Während sie überlegte, wie sie vorgehen sollte, kam ein Mann um die vierzig aus der Haustür. Er war elegant, aber leger gekleidet und lächelte, während er ihr die Tür aufhielt. Mit einem höflichen Lächeln schlich sie ins Haus hinein. Ihr Herz begann heftig in ihrer Brust zu schlagen. Sie hatte eigentlich keine Ahnung, was sie sich erhoffte. Antworten. Antworten, die sie noch nicht einmal für sich selbst formuliert hatte.
Im Erdgeschoss schien es nur einen Personaleingang zu einem Restaurant zu geben, das auf den Platz hinauswies. In der ersten Etage gab es vier Türen, aber kein Schild mit einem Namen, der mit C begann. Das Gebäude strahlte zwar viel Charme aus, aber es hatte keinen Aufzug, wie Ella bemerkte. Die Treppenstufen waren breit, aber stark ausgetreten. In der zweiten Etage entdeckte sie die Namen N. Cotillard und C. Seigner. Ohne weiter nachzudenken, ging sie auf Cotillards Tür zu und klingelte. Ihre Hände zitterten, als sie dort stand und auf eine Reaktion aus der Wohnung wartete, doch es war kein Laut zu hören. Auch bei Seigners war keiner zu Hause. Sie stieg noch eine Etage höher. D. Cassel und Marie Cuvelier. Ihr Blick
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