Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
Sie kam ihr bereits wie eine alte Bekannte vor. Andererseits teilten sie ja auch eine Geschichte, die sie miteinander verband. Marie schien Frederick ähnlich wie Ella nahezu abgöttisch geliebt zu haben, und genau wie für Ella war er ihr ohne Vorwarnung entrissen worden. Und zu allem Übel hatte sie zur gleichen Zeit auch ihren besten Freund verloren. Einen Mann, den Trauer und Sehnsucht beinahe in den Wahnsinn getrieben hatten.
»Und was geschah, als Christopher zurückkam?«
Ellas Stimme wirkte nach der intensiven Stille wie eine Befreiung.
»Eines Tages stand er einfach vor mir.«
Marie schlug hilflos mit den Armen aus. Als wisse sie immer noch nicht, was eigentlich geschehen war.
»Er klopfte an meiner Tür und fragte, ob ich vielleicht Brot im Treppenhaus verloren hätte.«
Sie lächelte. Diesmal jedoch so breit, dass sich ihre Gesichtshaut beunruhigend spannte.
»Ich öffnete die Tür weit und umarmte ihn. Dann sagte ich ihm, dass ich schon zu lange in diesem Stadtteil wohne, um auf irgendetwas noch mit Bestürzung zu reagieren.«
»Und wo war er gewesen? Was hatte er so lange gemacht?«
Ella wartete auf eine Antwort, hatte jedoch das Gefühl, dass Marie ihr ein paar Dinge vorenthielt. Marie wand sich und schaute erneut in ihr inzwischen leeres Weinglas.
»Ich habe ihn nur einmal gefragt«, antwortete sie schließlich. »Und ich werde seinen Gesichtsausdruck nie vergessen. Er sah aus, als würde er innerlich sterben. Er antwortete, dass er nie mehr darüber reden wollte. Dass die Dinge der Vergangenheit angehörten und er von nun an nur noch in der Gegenwart leben wollte.«
Marie begegnete Ellas Blick.
»Es war das einzige Mal, dass ich das Thema ansprach. Denn ich wollte nicht noch einmal diesen Schmerz in seinem Gesicht sehen.«
Als Ella aufstand, spürte sie die Wirkung des Alkohols deutlich – das Zimmer drehte sich, und sie bekam klaustrophobische Gefühle. Sie bedankte sich für diesen wunderbaren Tag und Abend. Marie rief ein Taxi und half Ella in den Mantel. Im Flur umarmten sich die beiden Frauen.
»Es war mir ein Vergnügen, Sie endlich einmal kennenzulernen«, sagte Marie, als Ella sich aus ihrer Umarmung wand.
»Danke, Marie, das Vergnügen war ganz auf meiner Seite.« Bereits im nüchternen Zustand war es für Ella eine Herausforderung gewesen, die Treppe mit hohen Absätzen zu bewältigen. Jetzt schwankte sie die Stufen in Richtung Erdgeschoss hinunter. Draußen auf der Straße herrschte inzwischen noch mehr Leben als tagsüber, obwohl die Nacht kühl war. Das Taxi wartete vor der Haustür auf sie, aber sie kam zu dem Schluss, dass ein Spaziergang ihr sicher guttun würde. Sie öffnete die Beifahrertür des Taxis und bat den Fahrer um Entschuldigung dafür, dass sie nicht mitfahren würde. Er murmelte lediglich etwas auf Französisch vor sich hin und schnaubte irritiert. Daraufhin stiegen zwei Männer mittleren Alters in den Wagen, und das Taxi fuhr fort.
Ella schaute sich um. Erst jetzt merkte sie, dass an diesem späten Abend zum überwiegenden Teil Männer unterwegs waren. Aha, das jüdische Viertel, dachte sie im Stillen. Jetzt war ihr aufgegangen, dass es sich um ein ausgemachtes Schwulenviertel handelte. Wohin sie auch schaute, sah sie Männer Hand in Hand gehen. Natürlich hatte sie schon zuvor jede Menge homosexuelle Männer gesehen, doch nie zuvor hatte sie sie so betrachtet wie jetzt. Sie ließ ihren Blick über die Menschen schweifen, denen sie begegnete, und meinte in allen Fredericks und Christophers Gesichter zu sehen. Sie hatten dasselbe Lächeln wie auf dem Foto in Christophers Arbeitszimmer. Ihr wurde schwindlig, und sie musste sich an einem Fallrohr festhalten und einige Male tief durchatmen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Auf einmal verwünschte sie ihre Stiefel mit den hohen Absätzen.
Ella riss sich zusammen und ging langsam weiter in Richtung ihres Hotels. Dann blieb sie vor einem Schaufenster stehen. Sie stand dort und schwankte langsam vor und zurück, wie um ihren Schwerpunkt zu finden. Nahezu apathisch starrte sie in das Fenster eines Reisebüros, das sich auf sogenannte »gay-friendly« Reiseziele spezialisiert hatte. Ella dachte eine Weile über die Bedeutung des Begriffs nach. Sollte das etwa heißen, dass es auch Reiseziele gab, die nicht »gay-friendly« waren? Natürlich hatte sie bereits davon gehört, dass Homosexualität in vielen Ländern, vor allem in arabischen, nicht erlaubt war, aber sie hatte nicht daran gedacht, dass es auch
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