Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
er einen Mann liebte, als dass er auch noch darüber hätte nachdenken können, wie es anderen Menschen in seiner Umgebung damit ging.«
Marie hielt Ellas Blick fest.
»Wenn es heute noch schwierig ist, so akzeptiert zu werden, wie man ist, dann ist das nichts im Vergleich zu früher.«
Ihre Stimme war heiser, und Ella erahnte die Trauer darin. Als hätte sie Ellas Gedanken lesen können, fuhr sie fort:
»Ich habe nie viel geweint. Aber ich bedauere alle unglücklichen jungen Menschen, die in ihren Gefühlen gefangen sind. Die unsicher im Hinblick auf ihre eigenen Gefühle und voller Angst davor sind, was die anderen denken werden.«
Dann schaute sie hinunter in ihr Glas. Erneut zeigte sie dieses merkwürdige Lächeln.
»Während meines gesamten erwachsenen Lebens habe ich mich mit diesen Ausgestoßenen umgeben. Ich habe mit Sicherheit mehr homosexuelle Freunde als Schuhe. Und davon besitze ich nicht gerade wenig«, fügte sie hinzu.
Plötzlich klingelte im Flur ein schrilles Türtelefon. Ella zuckte zusammen. Als sie sich auf der Chaiselongue aufsetzte, spürte sie unmittelbar die Wirkung des Gins und des vielen Weins, den sie getrunken hatte. Während Marie aufsprang und jemanden zur Haustür hereinließ, nutzte Ella die Gelegenheit und trank in der Küche zwei große Gläser Wasser. Sie musste sich an den mit Rollen versehenen Kleiderstangen vorbeizwängen, um an die Spüle zu gelangen. Als sie zurückkam, sprach Marie mit einem jungen Mann im Flur. Er hatte zwei Pappverpackungen auf den Fußboden gestellt, auf die er gerade zeigte, während er Marie etwas zu erklären schien. Ella bereute, dass sie diesen Abendkurs in Französisch nicht belegt hatte, für den sie sich schon so oft anmelden wollte. Sie hasste es, wenn sie nicht verstand, was gesagt wurde, doch als die Leckerbissen einer nach dem anderen aus den Kartons genommen wurden, erschienen ihr alle Erklärungen hinfällig. Das Essen schmeckte ausgezeichnet, und sie aßen einige Minuten lang schweigend, bis Ella schließlich eine Frage stellte.
»Und wie hat Christopher den Tod meines Vaters aufgenommen?«
Marie fiel die Gabel aus der Hand. Ihre Reaktion bedurfte keiner Erklärung. Sie schaute Ella an, während sich ihre Augen mit Tränen füllten. Dann setzte sie sich in ihrem Sessel auf und schloss die Augen, um sich zu sammeln.
»Wann ist er denn gestorben?«, fragte sie schließlich.
»Im März 1976«, antwortete Ella kurz, ohne ihren Blick von Marie abzuwenden.
Marie hatte immer noch die Augen geschlossen und schien die Informationen zu verdauen, die sie gerade erhalten hatte, ließ dabei jedoch nicht erkennen, wie stark sie sie mitnahmen.
»Irgendwann in diesem Frühjahr kam Christopher zu mir«, sagte sie dann mit schwacher Stimme. »Es war mitten in der Nacht. Ich weiß noch, dass ich schlaftrunken die Wohnungstür öffnete, als er klopfte. Er redete unzusammenhängendes Zeug, zumindest dachte ich das. Und er sagte mir, dass er Paris verlassen müsse. Für wie lange, konnte er nicht sagen. Ich dachte, er hätte den Verstand verloren.«
Sie hielt in ihren Ausführungen inne. Über ihr strammes Gesicht huschte ein undefinierbarer Schatten. Eine Sekunde lang meinte Ella dann, die Andeutung eines Lächelns zu sehen, doch im nächsten Augenblick war es wieder verschwunden.
»Und wie lange blieb er weg?«, fragte Ella.
Marie stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Es dauerte fünfzehn Jahre, bis er wieder zurückkehrte.«
Ella zog die Augenbrauen hoch.
»Fünfzehn Jahre?«
»Nach einem Monat rief er mich an. Er bat mich, seine Wohnung bis auf Weiteres unterzuvermieten. Er hatte seine Wohnung so überstürzt verlassen, dass die meisten seiner Kleidungsstücke und persönlichen Habseligkeiten noch dort waren.«
Die Frau mit dem farbenfrohen Äußeren im großen Sessel gegenüber von Ella wirkte plötzlich zusammengesunken und grau. Sie schaute hinunter in ihr Weinglas.
»Fünfzehn Jahre lang standen seine Sachen bei mir«, sagte sie resigniert. »Ich konnte nicht mit dem Gedanken leben, dass er nicht zurückkehren würde. Also behielt ich sie bei mir.«
Sie schwiegen und nippten an dem Wein, den Ella erst jetzt richtig zu würdigen wusste. Er schmeckte fantastisch. Die ersten Gläser hatte sie eher getrunken, um sich zu betäuben. Schade um den edlen Tropfen, dachte sie. Sie betrachtete Marie im dunklen Schein der Lampen mit den mit Fransen versehenen Schirmen. Es war unfassbar, dass sie diese Französin gerade mal ein paar Stunden kannte.
Weitere Kostenlose Bücher