Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
Polizei hatte dennoch gefordert, dass sie sich einer rechtsmedizinischen Untersuchung unterziehen sollte. Ella sah dies als vollkommen richtig an – sie war sogar der Meinung, dass alle vergewaltigten Frauen von einem Rechtsmediziner untersucht werden müssten, wenn nicht bereits zu viel Zeit zwischen dem angegebenen Zeitpunkt des Übergriffs und der Erstattung der Anzeige vergangen war. In diesem Fall war die Vergewaltigung offenbar am Vortag geschehen, an dem die Frau sich mit dem verdächtigten Mann getroffen hatte. Laut Polizeibericht hatten die beiden seit einigen Wochen Kontakt übers Internet, bevor sie sich schließlich für ein Treffen im richtigen Leben oder IRL, wie es neuerdings genannt wurde, verabredet hatten.
Ella bemühte sich, nicht allzu sehr über die Umstände nachzudenken, die zur Vergewaltigung geführt hatten, sondern konzentrierte sich eher darauf nachzuvollziehen, wie der Übergriff stattgefunden hatte. In diesem Fall hatte der Täter laut Aussage der Frau ihre Arme hinter ihrem Rücken verschränkt und war von hinten in sie eingedrungen. An den Armen der Frau fand Ella frische blaue Flecken, die mit ihren Schilderungen übereinstimmten. So weit war alles kein Problem. Was Ella allerdings bereits irritiert hatte, als sie den Polizeibericht las, war die Beschreibung der Frau, wie der Mann sie mit einem Messer bedroht hatte. Er hatte sie nach ihren Angaben mit einem Taschenmesser am Hals verletzt, während er hinter ihr stand und ihr die ganze Zeit über die Schneide an die Kehle hielt. Als sie den Hals der Frau begutachtete, bestätigten sich die Gedanken, die ihr beim Lesen des Berichts gekommen waren. Ella beschrieb sämtliche Verletzungen eingehend und methodisch und fotografierte sie. Als die Untersuchung beendet war, bedankte sie sich bei der Frau für ihre Mitarbeit und bat die Polizistin, die sie begleitete, noch kurz zu bleiben, während die Frau in einem Nebenraum wartete.
»Sind Sie mit dem Fall betraut, oder hat man Sie nur als Begleitung mitgeschickt?«, fragte Ella die Polizistin.
Die Frau stand auf und schaute auf Ella hinunter. Sie war bestimmt 180 Zentimeter groß, mutmaßte Ella.
»Es ist mein Fall«, antwortete sie mit einem Lächeln.
»Ich werde die Akte der gynäkologischen Untersuchung anfordern«, begann Ella. »Aber ich möchte Sie bereits jetzt bitten, die Frau nach ihren Verletzungen am Hals zu befragen.«
»Die Messerschnitte?«
»Ja, genau. Denn ich glaube nicht, dass sie zum eigentlichen Verletzungsbild gehören.«
Die Polizistin schaute Ella verständnislos an.
»Abgesehen von den Halsverletzungen stimmen die Verletzungen in Aussehen und Lage mit ihren Angaben überein. Aber die Verletzungen am Hals hat sie sich meiner Auffassung nach selbst beigebracht.«
»Vielleicht habe ich mich in unserem Telefonat vorhin nicht deutlich genug ausgedrückt, aber wir haben bereits einen Mann festgenommen«, entgegnete die Polizistin leicht irritiert.
»Selbst zugefügte Verletzungen bedeuten ja nicht notwendigerweise, dass sie nicht vergewaltigt worden ist«, erwiderte Ella ruhig.
Die Polizistin setzte sich wieder und seufzte.
»Ich verstehe«, sagte sie ernüchtert. »Sie sprechen davon, dass sie ihre Verletzungen möglicherweise nachgebessert hat. Ich weiß, dass so etwas vorkommt, aber ich hatte selbst noch keinen Fall, bei dem es wirklich geschehen ist.«
»Das Wichtigste ist, dass jemand bei der nächsten Vernehmung noch einmal dezidiert nach den Verletzungen am Hals fragt. Es wäre bedeutend besser, wenn sie es jetzt zugibt, als wenn es während eines möglichen Prozesses zutage kommt«, betonte Ella sachlich. »Ich werde sämtliche Verletzungen in meinem Gutachten darlegen und gegebenenfalls auch Stellung dazu beziehen, was in ihrer Akte aus der Frauenklinik steht.«
Die Polizistin nickte, gab ihr die Hand und verließ den Raum. Ella betrachtete die beiden Frauen durch das Panzerglas hindurch. Wie unterschiedlich sie waren, dachte sie. Die eine kräftig, groß gewachsen und in Uniform, die andere klein und zierlich, während sie wahrscheinlich immer noch die Kleidung trug, in der sie dem Mann begegnet war. Mit einem tiefen Seufzer verließ Ella das Untersuchungszimmer.
Draußen hatte es noch nicht zu dämmern begonnen, als Ella ihr Büro verließ. Ihre Kollegen hatten sie mehrmals gefragt, ob sie ins Gericht müsse. Denn sie trug eines der Kostüme, das sie nahezu ausschließlich trug, wenn sie einen Termin dort hatte. Doch an diesem Tag bezweckte sie mit
Weitere Kostenlose Bücher