Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
Judit das Foto hin. Mit offen stehendem Mund betrachtete ihre Mutter den Mann darauf. Den Mann, für den ihr Ehemann imstande gewesen war, sie zu verlassen. Ella konnte nur erahnen, was ihrer Mutter in diesem Augenblick durch den Kopf ging. Sie stand schweigend neben ihr und wartete, bis sich die Informationen gesetzt hatten, während Judit krampfhaft das Polaroidfoto festhielt.
»Er sieht nett aus«, sagte sie schließlich nach langem Schweigen.
Sie klang ruhig. Vielleicht war seit den Ereignissen von damals schon zu viel Zeit vergangen, dachte Ella. Vielleicht war schon zu viel Wasser den Bach hinuntergeflossen, um ihre Bitterkeit erneut zu entfachen. Judit saß besonnen da und schien den Mann auf dem Foto zu mustern. Ihn einzuschätzen.
»Du und dieser Christopher, ihr habt denselben Mann geliebt, Mama.«
Judit schaute verwundert zu Ella auf. Seit über fünfundzwanzig Jahren war sie nicht mehr Mama genannt worden.
»Feige und egoistisch oder nicht, Papa war bereit, uns für ein neues Leben mit ihm zu verlassen.«
Judit nickte stumm. Sie nahm das Ganze unendlich viel besser auf, als Ella erwartet hatte. Doch plötzlich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Sie legte den Kopf schief und drehte das Foto in ihrer Hand um.
»Woher hast du das?«
Ella machte eine Kopfbewegung in Gretes Richtung.
»Ich habe es vor einer halben Stunde in Gretes Sekretär gefunden. Zum zweiten Mal«, fügte sie hinzu. »Das erste Mal habe ich es direkt nach dem Brand gesehen, als wir bei Ernst und Grete zu Hause wohnten. Damals hat Grete mir das Bild aus der Hand gerissen.«
Judits Blick verdunkelte sich, als sie sich ihrer Mutter zuwandte.
»Vielleicht kam mir Christophers Gesicht deshalb so bekannt vor, als ich ihn in Paris gesehen habe«, warf Ella ein.
»Du hast ihn getroffen?« Judits Stimme überschlug sich vor Erregung.
Ella schüttelte den Kopf.
»Er war im Ausland, als ich in Paris war, aber ich habe in seiner Wohnung ein Foto von ihm gesehen.«
Sie beugte sich hinunter und zog einen großen Bilderrahmen aus einer der mitgebrachten Tüten. Sie hatte das Handyfoto von Fredericks und Christophers Bild vergrößern lassen. Die Qualität war zwar nicht gerade optimal, aber es erfüllte seinen Zweck, hatte Ella überlegt. An der Wand hinter Gretes Fußende hing eine kleine Lithografie, die Ella vorsichtig abnahm. Dann hängte sie das gerahmte Foto an ihren Platz. Das Bild war groß genug, dass Grete von ihrem Bett aus deutlich das lächelnde junge Paar erkennen konnte. Sie schien nicht besonders amüsiert zu sein.
»Obwohl Ernst sich mit Frederick darüber geeinigt hatte, wie man das Ansehen des Unternehmens retten konnte und Frederick verschwinden würde, überlegte er es sich aus irgendeinem Grund anders.«
Ella wandte sich jetzt Grete zu, die immer noch mit Widerwillen auf das Foto an ihrem Fußende blickte.
»Aus irgendeinem Grund wurde Klaus damit beauftragt, Frederick nicht zur Fähre zu fahren, sondern dafür zu sorgen, dass er unter der Erde landete. Und ich glaube, den Grund haben wir hier vor uns.«
Sie deutete auf das Polaroidfoto, das Judit noch immer in Händen hielt. Ella hatte erst kürzlich aus nächster Nähe miterlebt, wie vorurteilsbeladen der Begriff Homosexualität immer noch war. Wenn das Ehepaar Westmark selbst im 21. Jahrhundert noch in der Lage war, die Leiche seines Sohnes zu schänden, um sein Geheimnis zu hüten, konnte Ella sich unschwer ausmalen, welche Bedeutung ein Geheimnis dieser Art in den 70er Jahren für eine Frau aus der Oberklasse wie Grete gehabt haben mochte.
»Grete hat den Brief zuerst bekommen, nicht wahr?«
Sie schaute ihre Mutter an.
»Du hast den Brief also von Grete bekommen«, stellte Ella fest. »Geöffnet.«
Judit konnte nur nicken. Alles, was ihre Tochter gesagt hatte, stimmte. Wie sie das alles herausgefunden hatte, war für Judit jedoch ein Rätsel. Gleichwohl empfand sie großen Stolz auf Ella und ihre offenbar grenzenlosen analytischen Fähigkeiten. Ella fuhr fort.
»Grete hat das Foto aus dem Umschlag genommen, um dich von der in ihren Augen erniedrigenden und verabscheuenswerten Einsicht zu verschonen, dass Frederick vorhatte, dich wegen eines Mannes zu verlassen.«
Ella machte eine Pause.
»Sie hätte die Sache auch auf sich beruhen lassen können.«
Sie setzte sich auf die Bettkante und begegnete Gretes Blick. Wieder zuckte ihre Lippe, als versuche sie etwas zu sagen.
»Aber das konntest du nicht. Du konntest nicht mit dem Wissen leben, dass
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