Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
Worte wirbelten nur so in Ellas Hirn herum, dessen grauweiße Substanz ihr vom Alkohol ziemlich aufgeweicht vorkam. Mit behutsamen Schritten machte sie sich auf den Weg zum Bad. Auf halber Strecke stolperte sie über die Tüten, die sie zuvor in den Flur gestellt hatte, und fiel mit einem Plumpsen hin. Sie drehte sich auf dem Fußboden schnell um, damit es aussah, als käme sie aus dem Bad. Markus und Mattias streckten ihre Köpfe zum Flur hinaus und erblickten Ella dort inmitten des Tütenhaufens, woraufhin sie einander anschauten und schließlich in Gelächter ausbrachen. Es war ein befreiendes Lachen. Ella musste ebenfalls lachen und vergaß sowohl ihren Schmerz im Knie, auf das sie gefallen war, als auch den Schmerz in Markus’ Stimme. Nachdem die beiden ihr wieder auf die Beine geholfen hatten, gab es Nachtisch und Kaffee. Wider besseres Wissen nahm sie den Digestif an, den sie ihr anboten. Inzwischen war ihr klar geworden, was Markus im Sinn hatte – er wollte sie ein letztes Mal verführen. Seine Anstrengungen waren allerdings völlig unnötig. Denn er rannte offene Türen ein.
Ziemlich betrunken hatten Ella und Markus das Geschirr in der Küche stehen lassen, Mattias im Gästezimmer untergebracht und sich daraufhin lustvoll einander hingegeben. Sie hatten sich mit einer Verzweiflung geliebt, die Ella zuvor noch nicht erlebt hatte. Der Ausgang war allerdings offensichtlicher denn je, als sie am Samstagmorgen jeder auf seiner Seite des Bettes erwachten. Die Kopfschmerzen machten Ella nichts aus, doch ihr wurde das Herz schwer, als sie ins Bad hinaustappte. Sie stellte sich kurz unter die Dusche und zog ein Paar dicke wollene Hosen und einen Kapuzenpullover an. Markus schlief noch fest. Schließlich stand sie in der Küche und fingerte am Zettelblock herum, verließ dann jedoch die Wohnung, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.
Es war fast neun Uhr und bereits hell draußen. Die Kälte bewirkte, dass sie sich wacher fühlte als sonst. Als sie Markus dort im Bett neben sich hatte liegen sehen, hatte sie einen inneren Zwiespalt gespürt, der für sie neu war. Sie fühlte sich zwischen ihren widersprüchlichen Gefühlen hin- und hergerissen. Schließlich hatte die Vernunft gesiegt, woraufhin sie an diesem Januarmorgen nun allein unterwegs war. Ihr Herz hatte ihr geraten, sich an ihn zu kuscheln und ihn ein weiteres Mal zu verführen. Doch in der klaren, kalten Luft sah sie ein, dass sie in jedem Fall letztlich alleine draußen in der Kälte gelandet wäre.
Ella spazierte am Wasser entlang in Richtung des kleinen Hafens und weiter durch den Park zum Stadtzentrum. Auch wenn sie kein besonderes Ziel vor Augen hatte, stand sie bald am Kanal und schaute hinauf zu ihrer zukünftigen Wohnung. Im großen Saal brannte Licht, und sie konnte den riesigen Kronleuchter erkennen. Jetzt waren es nur noch drei Wochen, bis die Wohnung ihr gehören würde. Sie blieb so lange vor dem Haus stehen, wie ihre Winterkleidung es zuließ, und fragte sich, wie lange sie wohl würde lüften müssen, um den Zigarettengeruch loszuwerden, der sich inzwischen in den Wänden festgesetzt haben dürfte. Sie mutmaßte, dass die alte Frau gezwungen gewesen war, mit dem Rauchen aufzuhören, nachdem sie nur noch mit Sauerstoffgerät weiterhin in der eigenen Wohnung bleiben konnte. Ein absolutes Rauchverbot war die unabdingbare Voraussetzung für das Anschließen einer Sauerstoffflasche in der Wohnung. Sie hatte bereits selbst die Folgen zu sehen bekommen, wenn ein Patient diese Regel missachtete. Sauerstoff in konzentrierter Form war ein außerordentlich guter Brennstoff. Die Brände, die er verursachte, waren oft so heftig, dass von dem heimlichen Raucher nicht mehr allzu viel übrig blieb. In den Fällen, an die sie sich erinnern konnte, mussten die Leichen mittels Knochen-DNA identifiziert werden, eine neuartige Technik, die nach der Tsunamikatastrophe entwickelt und verfeinert worden war. Bis dahin war man im Großen und Ganzen darauf angewiesen gewesen, die Leichen mittels der Röntgenbilder der Zähne zu identifizieren. Ella hoffte inständig, dass die alte Dame zumindest nicht rauchen würde, bis sie ausgezogen wäre.
Als Ella nach ihrem schnellen Spaziergang eine gute Stunde später wieder in die Wohnung zurückkehrte, war ihr warm vom schnellen Gehen. Markus schlief immer noch, während Mattias mit einer Tasse Kaffee und der aufgeschlagenen Morgenzeitung in der unaufgeräumten Küche saß. Er lächelte sie an, als sie mit leisen Schritten
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