Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
das Wohnungsinserat, das sie in der Zeitung gesehen hatte, und dachte, dass sie mit Grete als Nachbarin auch nicht im Haus hätte wohnen bleiben wollen.
Es war Estrid, die ihnen die Tür öffnete. Sie sah älter aus als beim letzten Mal; ihre Augen wirkten eingesunkener und ihr Rücken krummer als zuvor. Als sie Ella erblickte, strahlte sie jedoch übers ganze Gesicht. Sie umarmte sie und hielt sie fest, bis Judit sich vorsichtig an der rundlichen Frau vorbeidrängte. Mit steifen und verkrümmten Fingern begann Estrid Judit aus dem Mantel zu helfen, erhielt jedoch umgehend Unterstützung von Ella.
»Wir kommen schon zurecht«, flüsterte sie ihr zu.
Estrid schien jedoch darauf zu bestehen, ihre Mäntel in Empfang zu nehmen. Ella suchte ihren Blick, wiederholte ihre Aussage und stellte fest, dass sich seit ihrer letzten Begegnung offenbar auch Estrids Hörvermögen nicht gerade verbessert hatte. Als Judit sich entfernt hatte, trat die alte Frau einen Schritt zurück und nahm Ella näher in Augenschein. Estrid trug wie immer einen langen grauen Rock, eine weiße Bluse und eine schwarze dünne Strickjacke. Wie es sich für eine richtige Hausdame gehörte. Der riesige Korridor ließ Estrid noch kleiner erscheinen, wie sie auf dem großen runden Perserteppich stand, der das Parkett im Fischgrätmuster zum großen Teil bedeckte.
»Die Weiber sitzen im Salon«, sagte sie und lächelte gequält. »Ein paar von ihnen sind inzwischen schon richtig senil.«
Estrid sprach so laut, dass Ella zusammenfuhr. Der schien das nicht bewusst zu sein, weil sie sich vermutlich selbst nicht mehr besonders gut hörte. Ella konnte sie nicht rechtzeitig zurückhalten, bevor sie fortfuhr:
»Jetzt gehe ich in die Küche und vergifte den Kaffee, dann kannst du mir in einer Weile Gesellschaft leisten.«
Ella ging in den Salon und hoffte sehr, dass die Damen dort drinnen inzwischen nicht nur senil, sondern auch taub geworden waren. Fünf Frauen im Alter um die achtzig saßen in einer Sofagruppe, bestehend aus zwei kleineren Sofas und zwei zierlichen Sesseln. Die Möbelstücke sahen aus wie aus einem französischen Schloss des 18. Jahrhunderts. Grete hatte die strengen Linien des Empirestils mit einzelnen modernen Möbelstücken und Stoffen von Josef Frank und Marimekko ergänzt. Der Tisch war mit Kaffeetassen und Tellern aus einem teuren Service gedeckt, dessen Name Ella entfallen war. In einem der zierlichen Sessel saß Grete. Sie war mager, sah aber ansonsten gesund aus. Zur Feier des Tages trug sie ein dunkelblaues Kleid und hatte einen bunten Schal um die Schultern geschlungen. Ihr dunkelgraues Haar war zu einem Knoten im Nacken hochgesteckt und ihr Gesicht in hellen Farbtönen und mit einem diskreten Lippenstift geschmackvoll geschminkt. Ihr Nagellack hingegen war blutrot. Sie verkörperte regelrecht den Begriff »standesgemäß«, stellte Ella fest. Judit stellte den Blumenstrauß auf einem Gabentisch neben der Sitzgruppe in eine Vase und ging zu Grete, um sie auf die Wange zu küssen.
»Wie schön, dass ihr euch auch die Zeit genommen habt aufzutauchen«, sagte Grete mit einem sarkastischen Unterton.
Im Unterschied zu anderen höhergestellten Damen, die ebenfalls als Erwachsene aus Deutschland eingewandert waren, konnte man keinerlei Akzent heraushören, wenn sie sprach. Sie lächelte wie immer mit geschlossenem Mund. Ella konnte sich nicht daran erinnern, jemals gesehen zu haben, ob sie überhaupt Zähne besaß.
Ella ging nicht auf Grete zu, sondern begnügte sich damit, ihr diskret zuzunicken. Für einen Augenblick schien Grete leicht aus der Fassung zu geraten. Sie ließ ihren Blick über Ellas Körper gleiten und schien ihn bis ins kleinste Detail unter die Lupe zu nehmen. Ella erahnte ihre Verwunderung. Dann richtete Grete sich in ihrem Sessel auf und holte Luft.
»Wie schade, dass die Verlobung mit Herrn Nilsson aufgelöst wurde!«
Sie sprach laut und deutlich, sodass alle anwesenden Damen es hören konnten. Dass Markus Nilmark und nicht Nilsson hieß, war Grete vollkommen bewusst. Da es Ella höchst unwahrscheinlich erschien, dass Grete ein Buch zur Hand genommen und es gelesen hatte, nahm Ella an, dass die fünf Herrschaftstechniken, über die diverse Bücher geschrieben worden waren, für Grete ganz natürliche Eigenschaften darstellten. Sie hatte sich gerade zweier dieser Techniken bedient; eine Person unsichtbar und zugleich lächerlich zu machen. Wahrscheinlich hatte sie blitzschnell registriert, dass Ella keinen
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