Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
Sie richtete ihre gesamte Aufmerksamkeit auf Judit und versuchte abzuschätzen, ob sie ihrer Mutter glauben konnte oder nicht. Sie hatte sie noch nie so erlebt. Nie hatte sie so über Frederick geredet. Doch eine Kleinigkeit ließ in Ella den Verdacht aufkommen, dass Judit mit ihrer Schilderung etwas bezweckte. Ella glaubte keinen Moment lang, dass Judit dieser Nebensatz einfach so herausgerutscht war. Sie war immerhin eine Meisterin im Manipulieren.
»Und wo fand er Trost?«, fragte sie.
Sie ahnte, dass Judit nicht nur auf den Alkohol angespielt hatte.
»Das spielt keine Rolle«, antwortete Judit und ergriff selbstsicher ihre Kaffeetasse. Ella stoppte ihre Bewegung und zwang sie, die Tasse wieder abzustellen. Judit starrte sie verblüfft an.
»Wo?« Ihre Stimme hatte jetzt eine gewisse Schärfe.
»Bei einer Frau in Paris. Aber ich glaube nicht, dass sie den Zustand deines Vaters ausgelöst hatte.«
»Zustand?«
Ella konnte nicht umhin, lauter zu sprechen. Das Mitleid, das sie eben noch für ihre Mutter empfunden hatte, wurde von einem Gefühl des Ekels abgelöst.
»Willst du damit sagen, dass Papa manisch depressiv und paranoid war und sich das Leben genommen hat, indem er unser Haus anzündete?«
Judit blieb eine Weile stumm und schien ihre Tochter zu betrachten. Langsam entspannten sich Ellas Züge wieder, woraufhin Judit weitersprach.
»Ich glaube, dass wir niemals verstehen werden, was im Kopf deines Vaters vor sich ging. Ich habe jahrelang zu begreifen versucht, was vorgefallen war, und bin zu dem Schluss gekommen, dass es außerhalb meiner Kontrolle lag.«
Ihre Stimme war besonnen. Jetzt war sie diejenige, die das Gespräch dominierte.
»Ich weiß nicht, ob der Brand ein Unfall war oder nicht, aber ich weiß, dass er in der letzten Zeit immer mehr getrunken hat. Ich weiß auch, dass er im Haus geraucht hat, wie wir alle in dieser Zeit. Aber du kennst dich ja mit dieser Statistik bestimmt besser aus«, fügte sie hinzu.
»Und wer war diese Frau?«, fragte Ella beharrlich.
Judit seufzte schwer. »Damals ließen wir unsere Wäsche von einer Reinigung waschen«, begann Judit. »Eigentlich hatten Grete und Ernst den Auftrag erteilt, aber die Reinigung holte einmal in der Woche auch unsere Wäsche ab. In einer Anzugtasche deines Vaters wurde ein Brief gefunden, den eine Frau an ihn geschrieben hatte. Auch wenn es mich wütend machte, sah ich in ihr nichts anderes als einen Zeitvertreib für ihn, eine Frau, die zeitweise seine melancholische Stimmung aufheiterte. Übrigens habe ich deinem Vater gegenüber nie etwas von diesem Brief erwähnt.«
Ella holte Luft, um eine weitere Frage zu stellen, wurde jedoch von ihrer Mutter unterbrochen.
»Du kannst den Brief haben. Ich habe ihn irgendwo in einer Schublade.«
»Französisch«, sagte Ella resigniert.
»Englisch«, antwortete Judit trocken und stand auf. Der Kaffeeplausch war beendet.
Am Tag darauf obduzierte Ella den gesamten Vormittag lang. Sie hatte wie gewöhnlich drei Fälle zu untersuchen. Ein weiteres älteres Ehepaar war verbrannt in seinem Haus auf dem Land aufgefunden worden. Das Haus war hauptsächlich als Sommerhaus genutzt worden. Man wusste nicht, wodurch der Brand verursacht wurde, aber wahrscheinlich waren die beiden an einer Kohlenmonoxidvergiftung gestorben, bevor die Flammen ihre Körper überhaupt erreicht hatten. Die Polizei hatte in diesem Fall die Identifizierung der Leichen in Auftrag gegeben, obwohl ihre Identität laut Polizeibericht festzustehen schien. Auch wenn die verkohlten Leichen bei äußerer Betrachtung keinerlei Hinweise darauf gaben, wer von den beiden wer war, waren ihre inneren Organe bedeutend besser erhalten. Zwar waren Teile der Bauchwand durch die Flammen zerstört worden, aber die Organe waren nur äußerlich verkohlt. Die Gebärmutter beziehungsweise die Prostata gaben zumindest Aufschluss über das jeweilige Geschlecht. Die endgültige Identifikation würde mittels eines Zahnstatus erfolgen. Ellas dritter Fall war ein junger Drogenabhängiger, der auf einer öffentlichen Toilette mit einer Kanüle neben sich tot aufgefunden wurde. Drei Routinefälle.
Ella arbeitete schnell und methodisch. Die Untersuchungen wurden im Großen und Ganzen unabhängig von der vermuteten Todesart durchgeführt. Was das ältere Ehepaar betraf, suchte sie speziell nach Ruß in den Atemwegen, ein Indiz zur Bestätigung, dass die beiden noch am Leben waren, als der Brand im Haus ausbrach. Sowohl der Mann als auch die Frau wiesen
Weitere Kostenlose Bücher