Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
ihren Arbeitsplatz verließ, waren alle anderen bereits gegangen, sodass sie gezwungen war, die schwere Brandschutztür zu schließen, damit die Akten bei einem möglichen Ausbruch eines Feuers nicht zerstört würden, und die Alarmanlage des Gebäudes einzuschalten.
Die kalte Abendluft, die ihr entgegenschlug, machte sie wieder munter. Die letzten Stunden am Schreibtisch waren ein Kampf gegen ihre zunehmende Müdigkeit gewesen, während ihre Augenlider immer schwerer geworden waren. Als sie nach Hause kam, beschloss sie, ihre Umzugskartons, die sie auffordernd anzuschauen schienen, einfach zu ignorieren, und ließ sich stattdessen ein heißes Bad ein.
In der folgenden Nacht schlief sie zehn Stunden. Als sie erwachte, hatte sich ihr Gehirn nicht nur erholt, sondern auch eine Strategie ersonnen, wie sie den Fall Erlandsson angehen könnte. Der Plan war in ihr Bewusstsein gedrungen, sobald sie die Augen aufgeschlagen hatte.
Ella richtete es so ein, dass sie als Erste zur Arbeit kam. Im Archiv hinter den feuerfesten Türen wurden nicht nur die Akten der vergangenen Jahre aufbewahrt, sondern auch die aktuellen Berichte der Ärzte. Jeder Arzt besaß ein eigenes Regal. Ella ging an ihrem vorbei und steuerte zielgerichtet auf Simons zu. Seine Dokumente lagen in vier säuberlich aufgeschichteten Stapeln. Sie fing mit dem kleinsten an. Da die Leiche aus Erlandssons Garten immer noch nicht identifiziert war, würde sie vermutlich der einzige seiner Fälle sein, auf dessen Vorsatzblatt kein Name stand.
Sie ging Stapel für Stapel systematisch durch. Im dritten fand sie, wonach sie suchte. Die Akte war lediglich mit einer Kennnummer und der sogenannten Kriminalnummer der Polizei gekennzeichnet. Die Informationen, nach denen sie suchte, hätte sie auch einfach erfragen können, aber sie wollte nicht unnötig ihr Interesse an dem Fall bekunden. In der Akte befand sich der vorläufige Polizeibericht, in dem auch Erlandssons Adresse und Telefonnummer angegeben waren. Hastig schrieb sie die Daten ab.
Plötzlich hörte sie, wie die Tür zum Obergeschoss geöffnet wurde. Als sie die Akte schnell wieder zurücklegte, fiel ihr Blick auf zwei hellbraune Papiertüten, die in Simons unterstem Regalfach standen. Die eine Tüte enthielt einen größeren Gegenstand, während die andere nahezu leer zu sein schien. Sie nahm die kleinere Tüte zur Hand und öffnete sie vorsichtig. Die Schritte von der Eingangstür näherten sich. Die festen Ledersohlen auf dem Kunststoffbelag des Korridors waren nicht zu überhören. In der dunklen Tüte konnte sie lediglich erbsenartige Strukturen erkennen.
Als Simon das kleine Archiv betrat und Ella erblickte, fuhr er zusammen. Sie hockte vor ihrem eigenen Regal und räumte ihre Papierstapel auf.
»Mensch, du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt«, rief er aus. »Ich dachte, dass gestern jemand vergessen hätte, die Alarmanlage einzuschalten.«
Ella entschuldigte sich, sammelte ihre Sachen zusammen und ging in ihr Büro. Erst als sie die Tür hinter sich geschlossen und sich an ihren Schreibtisch gesetzt hatte, wagte sie, ihre rechte Hand zu öffnen. In ihrer Handfläche lag keine Erbse, sondern eine kleine graugrünliche Kugel. Ella versuchte das Äußere mit ihrem Fingernagel abzuschaben, jedoch ohne Erfolg. Irgendetwas an der Farbe des Kügelchens irritierte sie. Es kam ihr irgendwie bekannt vor, sie konnte jedoch nicht sagen, warum. Vor ihrem inneren Auge zogen bruchstückartige Erinnerungen aus ihrem Chemieunterricht vorbei, die jedoch genauso schnell wieder verschwanden, wie sie aufgetaucht waren. Sie schob die Kugel vorsichtig in ihre Hosentasche und suchte das Chemielabor der Abteilung auf.
Im Labor sollten in erster Linie die Gewebeproben eingefärbt werden, die bei den Obduktionen entnommen wurden. Die verschiedenen Farbtöne ließen die unterschiedlichen Gewebestrukturen deutlicher hervortreten und erleichterten so die Diagnose gewisser krankhafter Veränderungen beispielsweise der Herzmuskulatur oder des Lebergewebes. Bestimmte Lösungen färbten das Bindegewebe orange, während wiederum andere das Fett rot leuchten ließen. Inmitten der Rollschränkchen und Behältnisse mit chemischen Flüssigkeiten arbeiteten normalerweise zwei biomedizinische Analytiker. Doch keiner der beiden war bisher erschienen, als Ella behutsam die Tür zu den dunklen Räumen aufschob. Mit vorsichtigen Schritten ging sie auf die Regale zu, in denen die konzentrierteren Substanzen aufbewahrt wurden. Die
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