Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
stand, waren wir nicht auf dem Land«, sagte sie mit absolut neutraler Stimme.
Sie wartete auf eine Reaktion von Judit, die nun völlig unbeweglich dasaß.
»Wir waren zu Hause bei Ernst und Grete«, fuhr sie fort. »Vier Tage vor dem Brand bist du nach einem Streit mit Papa zu ihnen gekommen.«
Letztgenanntes war lediglich eine Vermutung und somit ein Risiko, andererseits jedoch das Wahrscheinlichste. Außerdem wollte sie nicht unnötigerweise Estrid als ihre Quelle nennen.
»Ich muss wissen, was während dieser Tage tatsächlich geschah.«
Judit saß noch immer unbeweglich da, schien jedoch einen inneren Kampf auszufechten. Ihr flackernder Blick wanderte von ihrer Kaffeetasse zu ihrem Lippenstift und wieder zur Tasse zurück. Schließlich senkte sie den Blick und holte tief Luft. Zu Ellas Erstaunen versuchte sie sich nicht aus der Affäre zu ziehen. Sie wirkte nahezu resigniert.
»Wir hatten keinen Streit«, begann sie zögerlich. Ihre Stimme war schwach. »Frederick hatte bereits lange vor diesem Tag angefangen, sich mir zu entziehen, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Ich wollte nicht akzeptieren, dass er niedergeschlagen und abwesend war.«
Sie wirkte aufrichtig traurig, und Ella glaubte ihr beinahe, aber nur beinahe. Während ihrer gesamten Kindheit hatte sie erlebt, wie Judit ihre Umgebung mit Gefühlsausbrüchen manipulierte, sodass es ihr immer noch schwerfiel, ihre Gefühle ernst zu nehmen. »Er unternahm immer öfter Dienstreisen. Nach Frankreich, Italien, Brasilien. Wenn er wieder zurückkam, war er zwar braungebrannt, aber seine Augen waren ausdruckslos, und ihnen fehlte dieses Leuchten, das ich immer so unwiderstehlich gefunden hatte.«
Es war das erste Mal, dass Ella ihre Mutter in dieser Art und Weise über ihren Vater sprechen hörte. Normalerweise erwähnte sie seinen Namen nur flüchtig und dann eher, als handelte es sich dabei um eine unangenehme Erinnerung aus der Vergangenheit.
»Anfänglich dachte ich, es hätte mit seiner Arbeitsbelastung zu tun. Ich weiß, dass er immer mehr Aufträge von Papa und Hugo annahm, die einen großen Teil seiner Zeit beanspruchten. Kurz vor dem Brand war er in gewisse Vorgänge innerhalb des Konzerns involviert, aber er gab sich sehr verschwiegen.«
Ella hörte ihr gebannt zu, blieb jedoch innerlich all dem gegenüber, was über Judits Lippen kam, in gewisser Weise skeptisch.
»Er saß oft die halbe Nacht am Schreibtisch und beschäftigte sich mit Unterlagen, die er aus der Firma mit nach Hause genommen hatte. Die Sorgfalt, die er auf seine Arbeit verwendete, kannte keine Grenzen.«
Es war offensichtlich, dass Judit keinen näheren Einblick in das hatte, wovon sie sprach. Sie hatte sicher einzelne Geschehnisse registriert, die sie jetzt nach bestem Wissen zusammenzufügen und wiederzugeben versuchte, oder vielleicht erfand sie auch alles nur. Ella konnte ihr einfach nicht vertrauen.
»Ich kann nicht gerade behaupten, dass ich verstehe, wie das Ganze zusammenhing«, fuhr sie fort, als könnte sie Ellas Gedanken lesen. »Ich weiß nur, dass sich Fredericks Stimmung verschlechterte, je mehr er für den Familienkonzern arbeitete. Er trank immer mehr – wahrscheinlich suchte er Trost, wo immer er ihn finden konnte. Im Herbst 1975 und Frühling 1976 hielt er sich oft in Paris auf, und wenn er schließlich von seinen Reisen zurückkehrte, war er auch nicht richtig anwesend. Am 20. März kam er zeitig von der Arbeit. Er hatte Rosen für mich gekauft.«
Judit führte ihre zierliche Hand zum Mund und schluckte schwer, bevor sie fortfuhr.
»Sieben gelbe Rosen. Eine Rose für jedes Jahr unserer Beziehung. Er wirkte deprimiert. Als hätte er mehrere Nächte lang nicht geschlafen. Er sagte, dass er nie die Absicht besessen hätte, mir wehzutun, aber einfach nicht länger so weiterleben könne. Dass er nicht mit einer Lüge leben könne. Er sprach so schnell, dass ich Schwierigkeiten hatte, ihm zu folgen.«
Judit verstummte und starrte einige Sekunden lang vor sich hin, bevor sie fortfuhr.
»Für mich stürzte meine gesamte Welt ein. Auch wenn er weiterhin mit mir redete, musste ich mich damit abfinden, dass er nicht länger zu mir gehörte. Ich weiß noch, dass es um seine Aufträge für Ernst und Hugo ging, aber ich begriff damals nicht, was er genau meinte. Im Nachhinein habe ich überlegt, ob er in dieser Zeit möglicherweise paranoid oder sogar manisch gewesen ist.«
Judit sprach leise, aber Ella kam es vor, als verstummten alle Geräusche um sie herum.
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