Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
hatte sie darauf die Internetadresse notiert, die die Sekretärin auf der Rückseite des Flugtickets entdeckt hatte. Ella war so mit ihren eigenen privaten Ermittlungen beschäftigt gewesen, dass sie den Zettel ganz vergessen hatte. Sie schaltete den Laptop auf dem Küchentisch ein. Weder Markus noch sie hatten irgendwelche Internetseiten sperren lassen, sodass die Homepage unmittelbar geladen wurde. Obwohl sie sich schon so etwas gedacht hatte, zuckte sie zuerst zusammen, doch trotz des anstößigen Inhalts vermittelten ihr die Fotos auf der Seite eine gewisse Bestätigung. Sie tappte also nicht vollständig im Dunkeln. Als es ihr schließlich gelang, sich zu entspannen, und sie einschlief, hatte sie bereits eine Strategie entwickelt, wie sie eine Antwort auf ihre Fragen erhalten würde, ohne allzu viele Verdachtsmomente vor Judit offenzulegen.
Bereits am nächsten Tag rief Judit ihre Mutter an und fragte sie, ob sie sich nicht auf einen Kaffee in der Stadt treffen wollten. Eine Anfrage dieser Art hatte Judit von ihrer Tochter noch nie erhalten. Ella konnte nahezu hören, wie ihre Mutter versuchte sich herauszuwinden. Sie kannte Ella offenbar gut genug, um zu ahnen, dass sie etwas im Schilde führte. Aber andererseits hatte ihre Tochter in der letzten Zeit schließlich einiges in ihrem Leben verändert, und vielleicht wollte sie wirklich nur gemeinsam mit ihrer Mutter Kaffee trinken.
Judit saß bereits im Café, als Ella zur Tür hereinkam. Wie die meisten Cafés in der Innenstadt war auch dieses voll mit jungen Leuten, die höchstwahrscheinlich einen großen Teil ihres Einkommens für die unterschiedlichsten Kombinationen von Kaffee mit Milch ausgaben. Aus gegebenem Anlass hatte Ella viel Mühe auf ihr Äußeres verwendet. Nachdem sie nun morgens eine ganze Stunde vor dem Badezimmerspiegel verbrachte, hatte sie Platz für ihre neu erstandenen Schminkprodukte schaffen müssen. Es gefiel ihr nicht, sie in irgendeiner Schublade zwischen den Handtüchern aufzubewahren. Deswegen hatte Ella resolut eine Reihe von Vitamindöschen weggeworfen, die im Badezimmerschrank standen. Markus war derjenige, der die pharmakologischen Einkäufe in ihrem Haushalt übernommen hatte. Er war der Überzeugung, dass der moderne Mensch Nahrungsergänzungsmittel benötigte, um sich wohlzufühlen; eine Auffassung, die Ella keineswegs teilte. Sie hatte sich beständig geweigert, die Tabletten zu schlucken, da sie der Meinung war, eine vielseitige Kost zu sich zu nehmen, und sich außerdem durchaus wohlfühlte.
Nachdem sie den Badezimmerschrank geschlossen hatte, betrachtete sie ihr Outfit. Mit der richtigen Kleidung und dem passenden Make-up ging sie immer noch als junge attraktive Frau durch. Na ja, vielleicht nicht mehr wirklich jung und bedingt attraktiv, dachte sie, aber immerhin eine Frau.
Judit gestattete sich ein kurzes Lächeln, als sie Ella erblickte, stand jedoch nicht auf, als sie an ihren Tisch kam. Um sie ein wenig für sich einzunehmen, begann Ella von ihrer neuen Wohnung zu berichten. Die Lage des Hauses fiel bei Judit nicht ganz unerwartet auf fruchtbaren Boden. Eine bessere Adresse als diese gab es kaum im Zentrum, wenn man nicht gerade in Gretes Haus wohnen wollte. Nachdem sie sich eine Weile unterhalten hatten, merkte Ella, wie Judits Schultern sich entspannten und ihr Gesichtsausdruck gelöster wurde. Als sie sich über die zukünftige Einrichtung der Wohnung unterhielten, kam Ella auf ihren neuesten Auktionsfund zu sprechen. Mit unschuldiger Miene beschrieb sie die Tischuhr und erwähnte beiläufig, dass sie sie an die Uhr aus ihrer Kindheit erinnerte. Den abgebrochenen Flügel erwähnte sie natürlich nicht. Die Wahl des Gesprächsthemas bewirkte, dass sich auf Judits Stirn die Andeutung einer Sorgenfalte bildete. Ella war sich nicht sicher, wie viele Falten dieser Art sich überhaupt noch auf Judits mit Botox aufgespritzter Stirn bilden konnten. Sie erklärte, dass die alte Uhr in ihr Erinnerungen zu neuem Leben erweckt hätte und sie in den vergangenen Tagen öfter an den Brand denken musste. Judit rutschte auf ihrem Sessel immer weiter vor und schaute immer öfter auf die Uhr. Nervös kramte sie in ihrer Handtasche und schien schließlich eher zufällig ihren Lippenstift zwischen den Fingern zu halten. Ella stellte ihre Kaffeetasse ab und sah ihrer Mutter in die Augen. Ihr Blick war kalt und bewirkte, dass Judit unmittelbar aufhörte, an ihrem Lippenstift herumzufingern.
»In der Nacht, als unser Haus in Flammen
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