Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
hineingestellt, und auch wenn es ihr leicht widerstrebte – sie fand, dass man das Arrangement als etwas schlüpfrig auffassen konnte –, hatte sie einige ihrer Spiegel aufgehängt. Der große Ohrensessel fand seinen Platz vor dem Kachelofen im großen Saal, die drei großen Kunststofflampen stellte sie jeweils in eines der Fenster, und die Bronzeuhr platzierte sie behutsam auf dem Fußboden vor dem Spiegel. Als die Dämmerung hereinbrach, verliehen sie dem spärlich möblierten Saal zusammen mit den Kerzen ein gewisses Gefühl von Wärme.
Ella erwachte und stellte fest, dass sie immer noch zusammengerollt in dem großen Ohrensessel saß. Die Kerzen waren beinahe heruntergebrannt. Sie verdammte sich selbst – sie hatte noch nicht einmal Brandmelder in der Wohnung installiert. Die kleinen Lampen in den Steckdosen wiesen ihr den Weg ins Bad, aber im Schlafzimmer gab es noch keine Beleuchtung. In vollkommener Dunkelheit versuchte sie es sich auf der Matratze auf dem Fußboden bequem zu machen. Doch sie lag noch fast eine Stunde wach und musste daran denken, was hätte passieren können, wenn die Kerzen heruntergebrannt wären und es in der Wohnung zu brennen begonnen hätte. Wie viele Personen wussten denn, dass sie gerade erst eingezogen und die alte Dame verstorben war, die mit hoher Wahrscheinlichkeit noch unter dieser Adresse gemeldet war? Wie lange würde es dauern, bevor man die Verwechslung feststellte? Eine verbrannte neununddreißigjährige Leiche würde sich nicht wesentlich von einer neunzigjährigen unterscheiden. Langsam begann sich in ihrem Bewusstsein ein Gedanke zu formen.
Kurz vor der Mittagspause nahm Ella ihren Hauptschlüssel zum Archiv der Abteilung an sich und fuhr mit dem Aufzug in den Keller hinunter. Sie war seit mehreren Jahren nicht mehr dort unten gewesen und nicht ganz sicher, wie die Akten katalogisiert waren, wusste jedoch, dass es ein kleines Register gab. Wenn man erst einmal die Kennnummer der Akte in Erfahrung gebracht hatte, konnte man sie ohne Probleme in dem großen Kellerarchiv suchen. Die ersten Obduktionsprotokolle, die archiviert wurden, stammten aus dem vorigen Jahrhundert und waren mit Füllfederhalter von Hand geschrieben. Doch die Akte, nach der sie suchte, dürfte bereits mit der Schreibmaschine erstellt worden sein.
Im Archiv fand sie eine ganze Abteilung mit Obduktionsprotokollen von Personen, die Ende der 70er Jahre einem Serienmörder zum Opfer gefallen waren. Sie strich über die gebundenen Einbände. Insgesamt siebenundzwanzig Personen. Sie erinnerte sich daran, dass sie irgendwann zu Beginn ihres Berufslebens Teile der umfangreichen Ermittlungen gelesen hatte. Man hatte damals auf mehrere Monate alte Fälle zurückgreifen müssen, um auf die Details zu stoßen, die man zuvor übersehen hatte. Alle Opfer des Mörders waren alt und krank gewesen, und somit stellte es kein Problem dar, eine Todesursache zu finden. Nur leider hatte man die eigentliche Todesursache übersehen.
Ella ging entlang der Regale weiter. Sie fragte sich, wie viele Gutachten wohl fehlerhaft waren. Wie viele Obduktionen Hinweise darauf vermissen ließen, dass die Opfer keines natürlichen Todes gestorben, sondern getötet worden waren.
Schließlich fand Ella das Regal mit den Fällen von 1976. Die Akte, nach der sie suchte, war mit allen anderen Fällen zusammengebunden, die im selben Monat obduziert worden waren, sodass sie den gesamten Band mit in ihr Büro hinaufnehmen musste. Sie legte den dicken Wälzer mit den vergilbten Seiten auf ihren Schreibtisch. Auch wenn ihre Neugier groß war, zögerte sie ein wenig, sich dem Inhalt zu widmen. Sie beschloss, mit dem Lesen noch zu warten, doch der schwache Geruch nach altem Papier, der sich im Raum ausbreitete, zog immer aufs Neue ihre Aufmerksamkeit auf sich. Nach der Mittagspause schlug sie schließlich die Akte auf und blätterte bis zu dem Fall vor, von dem sie zwar gewusst hatte, dass er sich im Archiv befand, den sie aber nie für lesenswert gehalten hatte. Bis heute. Sie las den Namen laut.
»Frederick Andersson.«
Er kam ihr fremd vor. Wie die Figur aus einem Buch, das sie vor langer Zeit einmal gelesen hatte. Sie überblätterte die ersten Seiten und las dann die einleitenden Zeilen des Protokolls:
Die Leiche weist deutliche Brandverletzungen auf. Die Haut ist am gesamten Körper außer am linken Fuß stark schwarzbraun verkohlt, und die Leiche liegt in einer sog. Fechterstellung, d. h., die Ellenbogen- und Handgelenke sind ebenso
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