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Todesmarsch

Titel: Todesmarsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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warum, sie hätte mich um alles andere bitten können, und ich hätte versucht, es ihr zu erfüllen. Aber das hier - ich konnte es nicht. Es war, als hätte ich plötzlich einen Stein in der Kehle. Nach einer Weile begriff sie, daß ich nicht einfach sagen konnte, ja, in Ordnung, ich wähle die Telefonnummer 800 und sage ab. Ich glaube, sie hat es allmählich verstanden. Vielleicht so gut wie ich, was ja nun nicht besonders doll war - eh, ist.
    Und dann hat Dr. Patterson sich eingeschaltet. Er ist Diagnostiker und hat seine eigene, heimtückische Art von Logik. >Hör zu, Ray<, hat er zu mir gesagt, >rechnet man die Hauptgruppe und die Warteliste zusammen, dann stehen deine Überlebenschancen eins zu fünfzig. Das kannst du deiner Mutter nicht antun, Ray. < Ich habe höflich mit ihm diskutiert, solange ich konnte, doch schließlich habe ich ihm gesagt, er solle abhauen. Ich habe ihm klargemacht, daß seine Chancen, meine Mutter zu heiraten, noch viel geringer wären, daß ich aber noch nicht bemerkt hätte, daß er deswegen aufgeben wolle.«
    Garraty fuhr sich mit beiden Händen durch die strohigen Haare. Er hatte die zwei bedrohlichen Sekunden vergessen.
    »Gott, ist der wütend geworden! Er hat getobt und mir gesagt, ich solle nur so weitermachen, wenn ich meiner Mutter das Herz brechen wolle. Ich sei so gefühllos, wie ein - wie ein Holzbock, ja, ich glaube, das war's. So gefühllos wie ein Holzbock. Muß wohl ein Ausdruck in seiner Familie oder so was sein, keine Ahnung. Und dann hat er mich noch gefragt, was es für ein Gefühl sei, meiner Mutter und einem so netten Mädchen wie Janice so etwas anzutun. Darauf habe ich nur noch mit meiner eigenen unwiderlegbaren Logik gekontert.«
    »So, hast du das«, sagte McVries lächernd. »Und was war das?«
    »Ich habe ihm gesagt, er solle mein Zimmer verlassen, oder ich würde ihm eins überbraten.«
    »Und deine Mutter?«
    »Die hat überhaupt nicht viel dazu gesagt. Ich glaube, sie hat es nicht ganz begriffen. Der Preis hat sie wohl ein bißchen geblendet - alles, was man sich wünscht für den Rest des ganzen Lebens. Ich hatte einen Bruder, Jeff. Er ist an Lungenentzündung gestorben, als ich sechs war, und - es ist grausam - aber ich glaube, wir wären nicht gut miteinander ausgekommen, wenn er gelebt hätte. Jedenfalls - ich nehme an, sie hat sich deswegen eingebildet, daß ich jederzeit noch aussteigen könne, wenn ich als Geher drankommen sollte. >Der Major ist ein netter Mann<, hat sie gesagt. >Ich bin sicher, daß er dich gehen läßt, wenn er die Umstände kennt. < Aber sie exekutieren diejenigen, die sich vor dem Marsch zu drücken versuchen, genausoschnell wie diejenigen, die etwas dagegen sagen. Und dann habe ich den Anruf erhalten und gewußt, daß ich ein Geher war. Ich war auserwählt.«
    »Ich nicht.«
    »Was?«
    »Nein. Zwölf der ausgewählten Geher haben noch den 31. April als Absagetermin genutzt. Und ich war Nummer 12 auf der Warteliste. Ich habe den Anruf erst kurz nach elf Uhr nachts gekriegt. Vor vier Tagen.«
    »O Gott! So spät?«
    »Ja, so spät.«
    »Macht dich das nicht bitter?«
    McVries zuckte nur die Achseln.
    Garraty sah auf seine Uhr. Zwei Minuten nach drei. Es würde alles gut werden. Sein Schatten, der in der Nachmittagssonne immer länger wurde, schien sich jetzt mit etwas mehr Zuversicht zu bewegen. Es war ein angenehm kühler Frühlingstag, und das Bein schien wieder in Ordnung zu sein.
    »Denkst du immer noch daran, dich einfach so auf die Straße zu setzen?« fragte er McVries. »Du hast die meisten schon überlebt. Es sind jetzt einundsechzig.«
    »Ich glaube nicht, daß es etwas ausmacht, wie viele man überlebt hat. Es kommt der Augenblick, da einen einfach der Wille verläßt. Was ich denke, ist egal, verstehst du? Ich hatte früher viel Spaß daran, Ölfarbe auf eine Leinwand zu schmieren. Ich war auch gar nicht mal so schlecht. Und dann, eines Tages, bingo. Es ist nicht allmählich eingeschlafen, sondern hat ganz abrupt aufgehört. Bingo. Urplötzlich hatte ich kein Bedürfnis mehr, auch nur eine Minute weiterzumalen. Eines Abends bin ich mit dem Gefühl ins Bett gegangen, gern zu malen, und am anderen Morgen war es verschwunden.«
    »Am Leben zu bleiben, kann man wohl kaum ein Hobby nennen.«
    »Da bin ich mir nicht so sicher. Was ist mit den Sporttauchern? Oder den Großwildjägern? Den Bergsteigern oder, wenn du willst, mit den schwachsinnigen Fabrikarbeitern, deren Vorstellung von einem schönen Zeitvertreib es ist, sich

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