Todesmarsch
jeden Samstag auf eine Schlägerei einzulassen? All diese Aktivitäten reduzieren das Am-Leben-Bleiben auf ein Hobby. Es gehört zum Spiel.«
Garraty schwieg.
»Wir beeilen uns lieber ein bißchen«, sagte McVries freundlich. »Wir werden langsamer, und das kann ich nicht zulassen.«
Garraty lief schneller.
»Mein Daddy ist Mitinhaber eines Autokinos«, erzählte McVries. »Er besitzt die Hälfte. Er wollte mich fesseln, knebeln und in den Keller werfen, damit ich nicht herkommen könnte. Soldaten hin oder her, das war ihm egal.«
»Und was hast du getan? Ihn weichgemacht?«
»Dafür hatte ich keine Zeit mehr. Als der Anruf kam, blieben mir nur noch zehn Stunden. Sie haben eine Sondermaschine für uns eingesetzt und einen Mietwagen auf dem Presque Isle Flughafen bereitgestellt. Er tobte und raste durchs Zimmer, und ich habe einfach nur dagesessen und genickt und ja, ja gesagt, und dann hat es auch schon an die Tür geklopft. Meine Mutter hat aufgemacht, und da standen zwei der bulligsten, bösartigsten Soldaten, die man je gesehen hat, auf der Veranda. Mann, die waren so häßlich, daß man glauben konnte, die Uhren würden bei ihrem Anblick stehenbleiben. Mein Daddy hat sie nur einmal angesehen und zu mir gesagt: >Pete, du gehst besser nach oben und holst deinen Pfadfnderrucksack.<« McVries rückte seinen Rucksack zurecht und lachte bei der Erinnerung. »Und ehe wir uns versahen, saßen wir auch schon im Flugzeug. Sogar meine kleine Schwester Katrina. Sie ist erst vier. Wir sind um drei Uhr morgens gelandet und dann gleich zur Grenze gefahren. Ich glaube, Katrina war die einzige von uns, die wirklich etwas kapiert hatte. Sie sagte andauernd: >Pete geht jetzt auf ein großes Abenteuer. <« McVries wedelte ungeschickt mit den Händen. »Sie sind jetzt in einem Motel in Presque Isle. Sie wollten nicht nach Hause, ehe die ganze Sache vorbei ist. Egal, wie sie ausgeht.«
Garraty sah wieder auf seine Uhr. Zwanzig nach drei.
»Ich danke dir«, sagte er.
»Daß ich dir wieder mal das Leben gerettet habe?« McVries lachte fröhlich.
»Genau dafür.«
»Bist du sicher, daß ich dir damit einen Gefallen getan habe?«
»Das weiß ich nicht.« Garraty dachte einen Augenblick nach. »Aber ich sage dir eins: es wird für mich nie mehr dasselbe sein. Die Sache mit der Zeitbeschränkung. Selbst wenn du keine Verwarnung hast, liegen nur zwei Minuten zwischen deinem Leben und einem Platz auf dem Friedhof. Das ist nicht viel.«
Wie auf ein Stichwort knallten die Gewehre. Der getroffene Geher stieß ein heiseres Gurren aus wie ein Truthahn, der von einem anschleichenden Bauern ergriffen worden war. Die Menge stöhnte leise auf. Es konnte ein Ausdruck ihres Schreckens, aber ebensogut ihrer freudigen, beinahe sexuellen Erregung sein.
»Das ist überhaupt nichts«, pflichtete McVries ihm bei.
Sie liefen weiter, und die Schatten wurden immer länger.
Bei den Zuschauern tauchten warme Jacken auf, als hätte ein Magier sie aus seinem Zylinder hervorgezaubert. Einmal atmete Garraty eine aromatische Wolke Pfeifenrauch ein, die eine verborgene, bittersüße Erinnerung an seinen Vater heraufbeschwor. Kurz darauf entkam ein Schoßhündchen dem losen Griff seines Besitzers und rannte kläffend und mit schleifender, roter Plastikleine auf die Straße. Seine rosa Zunge hechelte, und an seinen Lefzen hingen Schaumflocken, als es wie betrunken versuchte, seinen Schwanz zu fangen. Dann kam es Pearson in die Quere und wurde äugen-, blicklich erschossen. Pearson fluchte auf den Soldaten, der es getan hatte. Die Wucht der schwerkalibrigen Kugel fegte es über die Straße, und es landete zitternd und mit verdrehten Augen direkt vor den Zuschauern. Niemand schien daran interessiert, es aufzuheben. Ein kleiner Junge mogelte sich an einem Polizisten vorbei, lief auf die linke Fahrspur und fing plötzlich an zu heulen. Einer der Soldaten schritt auf ihn zu, und seine Mutter stieß einen schrillen Schrei aus. Garraty glaubte eine Schocksekunde lang, daß der Soldat ihn wie den Hund erschießen würde, doch der Mann hob ihn nur mit unbeteiligtem Gesicht auf und trug ihn zur Menge zurück. ( Um sechs Uhr berührte die Sonne allmählich den Horizont und färbte den westlichen Himmel rot. Die Leute stellten ihre Kragen hoch, stampften mit den Füßen und rieben sich die Hände. Es war kalt geworden.
Collie Parker ließ wieder einmal seine gewohnte Klage über das beschissene Wetter in Maine hören.
Um dreiviertel neun sind wir in Augusta, dachte
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