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Todesmarsch

Titel: Todesmarsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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auch keine dicken Hausfrauen oder hübschen Mädchen oder pompöse Männer oder kleine Kinder in nassen Höschen mehr zu sehen, die mit ihrer Zuckerwatte winkten. Es gab auch keinen kleinen, geschäftstüchtigen Italiener mehr, der ihnen Wassermelonenstücke zuwarf. Es gab nur noch die Menge, eine häßliche Kreatur ohne Körper, ohne Kopf, ohne Verstand. Sie war nichts weiter als ein großes AUGE, eine ungeheuerliche STIMME. Und es überraschte ihn nicht mehr, daß sie Gott und Mammon zugleich war. Er fühlte es> und er wußte, daß die anderen es ebenso fühlten. Es war, als liefen sie zwischen' zwei gigantischen Strommasten und spürten das Kribbeln der Elektroschocks, so daß ihnen die Haare zu Berge standen, die Zungen im Mund zitterten und die Augen in ihren feuchten Höhlen knisterten und Blitze abschössen. Die Menge wollte befriedigt werden. Die Menge wollte angebetet und gefürchtet sein. Sie verlangte ihr Opfer.
    Sie pflügten sich durch knöcheltiefe Konfettihaufen. Sie verloren sich in dem Gestöber aus Papierfetzen aus den Augen. Garraty schnappte sich einen dieser Fetzen aus der Dunkelheit und der dröhnenden Luft und las eine Charles-Atlas-Body-Building-Werbung. Er griff nach einem weiteren Papierstreifen und sah sich plötzlich John Travolta gegenüber.
    Und als die Aufregung ihren Höhepunkt erreichte, als sie auf den Gipfel des ersten Hügels der U. S. 202 stapften und die übervölkerte Autobahn hinter sich und die überschwemmte, untergegangene Stadt zu ihren Füßen liegen sahen, teilten zwei grellweiße Scheinwerfer die Nacht, und der Major erschien. Wie eine Halluzination fuhr er in seinem Jeep vor ihnen her. In steifer Haltung, als hätte er einen Besen ver-schluckt, grüßte er die Menge und schien von dem gigantischen Getöse um ihn herum völlig unbeeindruckt. Es war unglaublich, fantastisch.
    Und die Geher? Die Saiten waren nicht gerissen, aber arg verstimmt. Sie hatten laut gerufen und geschrien, die Siebenunddreißig, die noch übrig waren, aber ihre Stimmen waren heiser und völlig wirkungslos. Die Menge konnte gar nicht wissen, daß sie mitschrien, aber sie schien es zu merken. Irgendwie schien sie zu kapieren, daß der Kreislauf aus Todesangst und Todessehnsucht sich für dieses Jahr wieder einmal geschlossen hatte, und sie geriet total aus dem Häuschen und steigerte sich zu immer heftigeren Ausbrüchen. Garraty spürte stechende Schmerzen in seiner linken Brusthälfte und konnte trotzdem nicht aufhören zu jubeln. Dabei wußte.er, daß er sich am Rand der Katastrophe bewegte.
    Ein leicht schielender Junge, Milligan, rettete sie alle, indem er plötzlich in die Knie sank und mit geschlossenen Augen die Hände gegen die Schläfen preßte, als wolle er sein Gehirn festhalten. Er rutschte aus und fiel nach vorn auf die Nase. Die Nasenspitze rieb sich auf dem groben Asphalt auf wie weiche Kreide auf einer rauhen Tafel. Es ist erstaunlich, dachte Garraty noch, der arme Junge schleift sich die Nase auf der Straße ab - dann erhielt Milligan seinen Gnadenschuß. Danach jubelten die Geher nicht mehr mit. Garraty hatte fürchterliche Angst, denn die Seitenstiche wollten einfach nicht wieder weggehen. Er versprach sich, daß dies das letzte Mal gewesen sein sollte, daß er sich so verrückt gebärdete.
    »Wir kommen deinem Mädchen immer näher, was?« fragte Collie Parker ihn. Er war noch nicht schwach, aber doch erheblich weicher geworden. Garraty fand ihn jetzt ganz in Ordnung.
    »Noch ungefähr fünfzig Meilen. Vielleicht auch sechzig. Mehr oder weniger.«
    »Du bist ein Glückspilz, Garraty«, sagte Parker wehmütig.
    »Bin ich das?« Er war überrascht und drehte sich um, um festzustellen, ob Parker ihn auslachte. Parker war nicht nach Lachen zumute.
    »Du wirst deine Freundin und deine Mutter zu sehen kriegen. Und wen, zum Teufel, werde ich bis zum Ende sehen? Nur diese Schweine da!« Er streckte seinen Mittelfinger in die Luft und hielt ihn der Menge entgegen, die dies als Gruß auffaßte und verzückt losschrie. »Ich habe Heimweh«, sagte er. »Und Angst.« Und plötzlich brüllte er los: »Ihr Schweine! Ihr verdammten Schweine!« Sie jubelten lauter als zuvor.
    »Ich habe auch Angst. Und Heimweh. Ich - ich meine, wir...« Er suchte nach den richtigen Worten. »Wir sind alle viel zu weit von zu Hause weg. Die Straße trennt uns davon. Ich werde sie vielleicht sehen, aber ich werde sie wohl nicht anfassen können.«
    »In den Regeln heißt es -«
    »Ich weiß, was in den Regeln

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