Todesmarsch
Nachricht, daß ein Junge weit vorn glaubte, daß er eine Blinddarmentzündung habe.
Früher hätte sich bei so etwas sein Magen zusammengezogen, aber jetzt konnte er nur noch an Jan und Freeport denken. Die Zeiger seiner Uhr rasten mit einer teuflischen Geschwindigkeit davon, als hätten sie plötzlich ein Eigenleben. Nur noch fünf Meilen. Sie hatten die Stadtgrenze von Freeport überschritten. Irgendwo da vorn standen Jan und seine Mutter jetzt vor dem Woolman's Einkaufszentrum, wie sie es ausgemacht hatten.
Die Wolken lichteten sich etwas, aber der Himmel blieb bedeckt. Der Regen war in ein hartnäckiges Nieseln übergegangen. Die Straße war ein dunkler Spiegel, eine schwarze, eisglatte Oberfläche, auf der Garraty die verzerrten Züge seines Gesichts sehen konnte. Er wischte sich mit der Hand über die Stirn. Sie war heiß und fiebrig. Jan, oh, Jan, du mußt wissen, daß ich - Der Junge mit den Schmerzen in der Seite, hieß Klingerman, Nr. 59. Er hatte angefangen zu schreien. Seine Schreie wurden bald zu einem monotonen Nebengeräusch. Garraty mußte an den Marsch zurückdenken, den er - auch das war in Freeport gewesen - früher gesehen hatte. An den Jungen, der ununterbrochen und ebenso monoton Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht geschrien hatte.
Klingerman, dachte er, halt die Klappe.
Aber Klingerman ging weiter und hörte nicht auf zu schreien. Die Hände hatte er in den Bauch gestemmt. Auch die Zeiger von Garratys Uhr rasten weiter. Es war jetzt Viertel vor acht. Du wirst dort sein, nicht wahr, Jan? Ja, du wirst dort sein. In Ordnung. Ich weiß nicht mehr, was du mir wirklich bedeutest, aber ich lebe noch, und ich habe es dringend nötig, dich dort zu sehen. Ich brauche vielleicht ein Zeichen von dir. Sei einfach da. Bitte, sei da.
Halb neun.
»Wir kommen jetzt in deine verdammte Stadt, Garraty«, brüllte Parker.
»Was geht dich das an?« fauchte McVries zurück. »Du hast ganz gewiß kein Mädchen, das da auf dich wartet.«
»Auf mich wartet überall ein hübsches Mädchen, du Blödian«, rief Parker. »Sie sehen mir bloß ins Gesicht, und schon machen sie sich die Höschen naß.« Das Gesicht, von dem er gerade gesprochen hatte, war jetzt mager und abgezehrt, nur noch ein Schatten von dem, was es einmal gewesen war.
Drei Viertel neun.
»Geh langsamer, Ray«, sagte McVries, als Garraty ihn eingeholt hatte und gerade an ihm vorbeiziehen wollte. »Spar dir noch ein bißchen für heute nacht auf.«
»Ich kann nicht. Stebbins hat gesagt, daß sie nicht da sein wird. Daß sie nicht genug Polizisten haben, um ihr den Weg freizumachen. Ich muß es herausfinden. Ich muß sehen -«
»Ich sag' ja nur, daß du dich schonen sollst. Stebbins würde seiner Mutter einen Lysolcocktail zu trinken geben, wenn ihm das zum Sieg verhelfen würde. Hör nicht auf ihn. Sie wird da sein. Das ist sehr gut für den Presserummel.«
»Aber -«
»Kein aber, Ray. Geh langsamer und lebe.«
»Du kannst dir deine beschissenen Platitüden in den Arsch stecken!« schrie Garraty. Dann leckte er sich über die Lippen und fuhr sich mit zitternder Hand übers Gesicht. »Es - es tut mir leid. Das wollte ich nicht. Stebbins hat auch noch gesagt, daß ich sowieso nur meine Mutter sehen will.«
»Willst du sie denn nicht sehen?«
»Natürlich will ich sie sehen! Was, zum Teufel, denkst du denn? Ich - nein - ja - ich weiß es nicht. Ich hatte mal einen Freund. Er und ich - wir - wir haben uns alle Kleider ausgezogen - und - und sie - sie -«
»Garraty«, sagte McVries und streckte eine Hand aus, um seine Schulter zu berühren. Klingerman schrie jetzt sehr laut. Jemand aus der Menge fragte ihn, ob er eine Alka-Seltzer wolle. Diese dumme Bemerkung trug zur allgemeinen Erheiterung bei.
»Du verlierst die Nerven, Garraty. Beruhige dich. Mach es dir nicht kaputt.«
»Laß mich in Ruhe!« schrie Garraty wieder los. Er riß die Faust an seinen Mund und biß sich auf den Knöchel. Eine Sekunde später sagte er leise: »Laß mich bitte in Ruhe!«
»Gut. In Ordnung.«
McVries ließ ihn allein. Er hätte ihn gern zurückgerufen, aber er,konnte nicht.
Und dann wurde es zum viertenmal neun Uhr vormittags. Sie bogen nach links ab, und die Menge befand sich wieder für eine Weile unter ihnen, als sie die 295 auf einer Überführung überquerten, um dann nach Freeport hineinzuwandern. Vorn links sah er eine Eisdiele, in die Jan und er manchmal nach dem Kino gegangen waren. Sie bogen nach rechts auf die U. S.1, die jemand vorhin
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