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Todesmarsch

Titel: Todesmarsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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jetzt satt und zufrieden war.

    Das Tageslicht kämpfte sich durch eine weiße, verstummte Nebelwelt. Garraty lief wieder allein. Er hatte nicht mehr mitgezählt, wie viele in dieser Nacht ausgeschieden waren. Vielleicht waren es fünf. Seine Füße hatten Kopfschmerzen. Fürchterliche Migränen. Er spürte den schwellenden Schmerz jedesmal, wenn er sie mit seinem Gewicht belastete. Seine Pobacken taten weh. Seine Wirbelsäule war eine eisige Flamme. Aber am schlimmsten waren die Schmerzen in seinen Füßen. Das Blut schien in ihnen zu gerinnen und sie anschwellen zu lassen. Es machte Spaghetti al dente aus seinen Adern.
    Und trotzdem spürte er eine steigende Erregung in seinem Bauch: es waren nur noch dreizehn Meilen bis Freeport. Im Augenblick liefen sie durch Portland. Die Menge konnte sie durch den dichten Nebel kaum sehen, aber seit Lewistown hatte sie in ständigem, rhythmischem Singsang seinen Namen gerufen. Es war wie der Pulsschlag eines gigantischen Herzens.
    >Freeport und Jan<, dachte er.
    »Garraty?« Die Stimme war vertraut, aber verbraucht. McVries. Durch seine Gesichtshaut schimmerten die Knochen seines Schädels hindurch. Seine Augen glänzten fiebrig. »Guten Morgen«, krächzte er. »Wir leben, um einen neuen Tag in Angriff zu nehmen.«
    »Ja. Wie viele hat es gestern nacht erwischt, McVries?«
    »Sechs.« McVries holte eine Tube Schinkenpaste aus seinem Gürtel und stopfte sich den Inhalt mit den Fingern in den Mund. »Sechs seit Barkovitch.« Er steckte die Tube mit den steifen, vorsichtigen Bewegungen eines alten Mannes zurück. »Pearson ist tot.«
    »Ja?«
    »Es sind nicht mehr viele von uns da, Garraty. Nur noch sechsundzwanzig.«
    »Nein, das sind nicht viele.« Das Gehen im Nebel war wie ein Wandeln auf leichten Wolken aus Mottenstaub.
    »Von uns sind auch nicht mehr viele da. Von den Musketieren. Du und ich, Abraham und Baker, Collie Parker und Stebbins. Wenn wir ihn dazurechnen wollen. Aber warum nicht? Warum, zum Teufel, nicht? Rechnen wir Stebbins also dazu, Garraty. Das macht dann sechs Musketiere und zwanzig Speerträger.«
    »Glaubst du immer noch, daß ich gewinnen werde?«
    »Wird es hier im Frühling immer so neblig?«
    »Was soll das heißen?«
    »Nein, ich glaube nicht, daß du gewinnst. Stebbins wird gewinnen, Ray. Ihn kann nichts kaputtmachen, er ist hart wie Diamant. Es heißt, daß er in Vegas jetzt neun zu eins gewettet wird, seit Scramm ausgeschieden ist. Himmel, er sieht noch fast genauso frisch wie am Anfang aus.«
    Garraty nickte, als ob er dies erwartet hätte. Er fand eine Tube Rindfleischkonzentrat in seinem Gürtel und begann zu essen. Was hätte er jetzt für McVries' lang verspeistes, rohes Hackfleisch gegeben! McVries schniefte und wischte sich mit der Hand über die Nase. »Kommt es dir jetzt nicht seltsam vor? Nach alledem wieder in deiner Heimat zu sein?«
    Garraty spürte die Aufregung wieder an seinen Eingeweiden nagen. »Nein«, antwortete er schlicht. »Es kommt mir wie das Natürlichste auf dieser Welt vor.«
    Sie gingen einen langen, flachen Berg hinunter, und McVries blickte in die weiße, nichtssagende Nebelwand. »Der Nebel wird dichter.«
    »Das ist kein Nebel mehr«, erwiderte Garraty. »Das ist Regen.«
    Der Regen fiel leicht und sanft, als hätte er nicht die Absicht, bald wieder aufzuhören.
    »Wo ist Baker?«
    »Irgendwo da hinten«, antwortete McVries.
    Ohne ein Wort - Worte schienen jetzt beinahe überflüssig zu sein - ließ Garraty sich zurückfallen. Die Straße führte an einer Verkehrsinsel vorbei, dann an dem klapprigen Porter-ville Sportzentrum mit seinen fünf Bowlingbahnen, an einem dunklen, verlassenen Warenhaus mit einem MAI IST DER »BESTÄTIGEN SIE IHREN SEX« MONAT Schild im Fenster.
    Im Nebel verpaßte Garraty Baker und fand sich plötzlich neben Stebbins wieder. Hart wie Diamant, hatte McVries über ihn gesagt, aber der Diamant zeigt schon kleine Fehler, dachte er sich hinzu. Sie liefen jetzt parallel am riesigen, völlig verschmutzten Androscoggin-Fluß entlang. Am anderen Ufer stieß die Textilfabrik der Porterville Weaving Company ihre schwarzen Rauchwolken in den Nebel. Sie sah wie ein schmutziges, mittelalterliches Schloß aus.
    Stebbins blickte nicht auf, aber er wußte, daß er seine Gegenwart spürte. Entschlossen, Stebbins das erste Wort zu überlassen, sagte er nichts. Auch wenn's blöd war. Die Straße machte wieder eine Kurve, und sie ließen die Menge für einen Augenblick unter sich, als sie eine Brücke über den

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