Todesmarsch
»Bald werden die Nägel durchkommen. Außerdem tust du dich schwerer, wenn die Schuhe verschieden hoch sind.«
Garraty kickte den kaputten Schuh vom Fuß, und er flog in hohem Bogen bis fast an den Rand der Menge, wo er wie ein verkrüppelter Hund liegenblieb. Die Zuschauer streckten gierig die Hände danach aus. Einer erwischte ihn, ein anderer riß ihn ihm aus der Hand, und gleich darauf gab es ein wildes Handgemenge. Sein anderer Schuh war nicht so leicht abzuschütteln, der Fuß war zu sehr geschwollen. Er kniete sich nieder, erhielt seine Verwarnung, band ihn auf und zog ihn aus. Einen Moment überlegte er, ob er ihn in die Menge werfen sollte, doch dann ließ er ihn einfach auf der Straße liegen. Eine riesige, unvernünftige Welle der Verzweiflung brach über ihn herein, und er dachte nur noch: Ich habe meine Schuhe verloren. Ich habe meine Schuhe verloren.
Der Asphalt war naß und kalt. Die zerrissenen Überreste seiner Socken waren sofort klitschnaß. Seine Füße sahen komisch aus, beinahe klumpig. Seine Verzweiflung ging in grenzenloses Mitleid für seine Füße über. Er rannte Baker hinterher, der ebenfalls ohne Schuhe lief. »Ich bin so gut wie am Ende«, sagte Baker schlicht.
»Das sind wir alle.«
»Ich fange an, mich an all die netten Dinge zu erinnern, die mir im Leben passiert sind. Das erste Mal, daß ich ein Mädchen zum Tanzen ausgeführt habe. Da war so ein großer, besoffener Kerl, der uns immer stören wollte. Ich habe ihn mit nach draußen genommen und zusammengeschlagen. Das ging nur, weil er so betrunken war. Aber das Mädchen hat mich angeguckt, als sei ich das Größte seit der Erfindung des Verbrennungsmotors. Mein erstes Fahrrad. Und das erste Mal, daß ich Die Frau in Weiß von Wilkie Collins gelesen habe -das ist mein Lieblingsbuch, wenn dich mal jemand fragen sollte, Garraty. Halb schlafend mit einer Angelleine an einem Moderloch sitzen und Tausende von Flußkrebsen herausfischen. Im Garten liegen und mit einem Popeye-Comicheft über dem Gesicht einschlafen. Ich muß an all diese Dinge denken, Garraty. Aber erst in letzter Zeit. Als ob ich plötzlich alt und senil geworden wäre.«
Der frühe Morgenregen fiel silbern vom Himmel. Selbst die Menge schien jetzt ruhiger, zurückgezogener. Man konnte wieder Gesichter in ihr erkennen, verschwommen, als wären sie hinter regenverhangenen Fensterscheiben. Es waren blasse, dunkeläugige Gesichter, die mürrisch unter tropfenden Hüten, Schirmen und aufgeklappten Zeitungen hervorblickten. Garraty spürte einen tiefen inneren Schmerz und hätte am liebsten geweint, aber er konnte nicht. Genausowenig, wie er Baker trösten und ihm sagen konnte, daß der Tod nicht so schlimm sei. Es mochte zwar stimmen, aber vielleicht stimmte es auch nicht.
»Ich hoffe, dort wird es nicht dunkel sein«, sagte Baker schließlich. »Das ist meine einzige Hoffnung. Wenn es ein -ein Danach geben sollte, dann ist es hoffentlich nicht dunkel. Und ich hoffe, daß ich mich erinnern kann. Ich hasse den Gedanken, dort für immer und ewig im Dunkeln herumzugeistern und nicht zu wissen, wer ich war oder was ich hier auf der Erde gemacht habe oder nicht einmal zu fühlen, daß ich einmal etwas anderes gewesen bin.«
Garraty wollte etwas sagen, aber die Gewehre kamen ihm zuvor. Das Tagesgeschäft hatte wieder begonnen. Die Lücke, die Parker so präzise vorhergesagt hatte, war nun fast überwunden. Bakers Lippen verzogen sich zu einem verzerrten Lächeln.
»Davor habe ich am meisten Angst. Vor diesem Geräusch. Warum haben wir das getan, Garraty? Wir müssen wahnsinnig gewesen sein.«
»Ich glaube auch nicht, daß wir einen guten Grund dafür hatten.«
»Wir sind nichts weiter als Mäuse in der Falle.«
Der Marsch ging weiter. Der Regen fiel weiter. Sie kamen jetzt an lauter Plätzen vorbei, die Garraty gut kannte - heruntergekommene Baracken, in denen niemand mehr wohnte, eine Schule mit nur einem Klassenzimmer, die durch ein festes Schulgebäude ersetzt worden war, Hühnerställe, aufgebockte, alte Zugmaschinen, frisch gepflügte Felder. Er hatte das Gefühl, als könnte er sich an jedes einzelne Feld, an jedes Haus genau erinnern. Und jetzt zitterte er vor Aufregung. Die Straße schien unter ihm wegzufliegen. Seine Beine hatten eine neue trügerische Frische gewonnen. Aber vielleicht hatte Stebbins doch recht- vielleicht würden sie gar nicht da sein. Er mußte es zumindest in Betracht ziehen und sich darauf vorbereiten.
Durch die dünnen Reihen kam die
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