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Todesmarsch

Titel: Todesmarsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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sagte Olson und zündete sich eine von McVries' Zigaretten an. »Ehrlich.«
    Doch als sie näher kamen, stieß Olson einen kleinen, häßlichen Seufzer aus und warf die Zigarette in die Büsche. Einer der Brückenträger und zwei von den Kopfplanken waren weggerissen worden, aber die Männer hatten saubere und schnelle Arbeit geleistet. Sie hatten einen abgesägten Telefonmast ins Bachbett gerammt und ihn in einem Zementblock verankert. Natürlich hatten sie keine Zeit gehabt, die Planken zu ersetzen, aber sie hatten die hintere Ladeklappe eines Lkws an deren Stelle gelegt. Ein Notbehelf, aber es ging.
    »Die Brücke von San Louis Ray«, bemerkte Abraham. »Vielleicht bricht sie wieder zusammen, wenn die Kerle da vorn ein bißchen mit den Füßen stampfen.«
    »Kaum Aussichten«, meinte Pearson und rief dann mit weinerlicher Stimme: »Ach, Scheiße!«
    Die Vorhut, inzwischen auf drei oder vier Mann geschrumpft, betrat jetzt die Behelfsbrücke. Ihre Schritte holperten hohl, als sie hinübergingen. Dann waren sie schon auf der anderen Seite und liefen, ohne sich nochmals umzusehen, weiter. Der Panzerwagen hielt vor der Brücke. Zwei Soldaten sprangen ab und liefen neben den Jungen her. Am anderen Ufer holten zwei weitere Soldaten die Vorhut ein. Die Bretter rumpelten jetzt beständig.
    Zwei Männer in Cordmänteln und hohen, grünen Gummistiefeln lehnten sich an einen teerbefleckten Laster mit der Aufschrift: AUTOBAHNREPARATUR. Sie rauchten und beobachteten die Jungen, die an ihnen vorbeigingen. Als Davidson, McVries, Olson, Pearson, Harkness, Baker und Garraty in loser Formation an ihnen vorbeikamen, schnippte der eine seinen Zigarettenstummel in den Strom und sagte: »Der da. Das ist Garraty.«
    »Weiter so, mein Junge!« rief der andere ihm aufmunternd zu. »Ich habe zehn Dollar auf dich gewettet. Zwölf zu eins!«
    Garraty sah das andere, mit Sägemehl bedeckte Ende des Telefonmastes auf der hinteren Ladefläche des Lasters. Das waren also die Leute, die dafür gesorgt hatten, daß er immer weitergehen mußte, ob es ihm nun gefiel oder nicht. Er hob kurz die eine Hand und lief über die Brücke. Die Ladeklappe polterte kurz unter seinen Schuhen, und dann lag die Brücke hinter ihm. Sie kamen um eine Kurve, und die einzige Erinnerung an die Ruhepause, die sie fast gehabt hätten, blieb der keilförmige Lichtschein auf den Bäumen am Straßenrand. Bald darauf war auch der verschwunden.
    »Ist ein Marsch eigentlich schon einmal aus irgendeinem Grund angehalten worden?« fragte Harkness.
    »Nicht, daß ich wüßte«, antwortete Garraty. »Sammelst du wieder Material für dein Buch?«
    »Nein«, erwiderte Harkness. Er klang müde. »Nur persönliche Neugier.«
    »Er hält jedes Jahr an«, bemerkte Stebbins säuerlich hinter ihnen. »Einmal.«
    Darauf antwortete niemand.
    Eine gute halbe Stunde später gesellte McVries sich zu Garraty und lief eine Weile schweigend neben ihm her. Dann fragte er ihn ganz ruhig: »Glaubst du, daß du gewinnen wirst, Ray?«
    Garraty dachte lange, sehr lange über die Antwort nach.
    »Nein«, sagte er schließlich. »Nein, ich... Nein.«
    Dieses schlichte Eingeständnis beängstigte ihn. Wieder mußte er sich vorstellen, was für ein Gefühl es wäre, erschossen zu werden. Die starre, letzte halbe Sekunde des vollkommenen Wissens. Der Anblick der abgrundtiefen, schwarzen Löcher der Gewehrmündungen, die auf ihn zielten. Steife Beine. Verkrampfte, zuckende Eingeweide. Muskeln, Gehirn, Geschlechtsteile, alle scheuten sie entsetzt vor dem Nichtsein zurück, von dem sie nur noch ein Herzschlag trennte.
    Er schluckte trocken. »Und was ist mit dir?«
    »Ich glaube kaum«, antwortete McVries. »Ich habe heute abend gegen neun aufgehört zu glauben, daß ich noch eine Chance hätte. Siehst du, ich...« Er räusperte sich. »Es ist schwer auszudrücken. Ich... Ich bin mit offenen Augen in die Sache hier hineingelaufen, weißt du?« Er deutete mit einer umfassenden Geste auf die anderen Jungen. »Und viele von diesen Kerlen da sind das nicht. Ich habe die Bedingungen gekannt, aber ich habe nicht mit den Menschen gerechnet. Ich glaube, ich habe mir nie die brutale Wirklichkeit klargemacht, bin mir nie bewußt geworden, was das hier eigentlich bedeutet. Ich hab' mir wohl vorgestellt, wenn der erste mal soweit wäre, daß er nicht mehr weiterkönne, würden sie mit den Gewehren auf ihn zielen, abdrücken, und dann würde aus der Mündung ein Stück Papier hervorkommen, auf dem FANG geschrieben steht,

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