Todesmarsch
und... Und dann würde der Major April, April rufen, und wir könnten alle wieder nach Hause gehen. Verstehst du, was ich damit sagen will?«
Garraty dachte an seinen eigenen erschütterten Schock, als er Curleys Kopf in einem Brei aus Blut und Gehirnmasse auf der Straße gesehen hatte. »Ja«, sagte er. »Ich verstehe, was du meinst.«
»Es hat eine Weile gedauert, bis ich mir das klargemacht habe, aber nachdem ich eine gewisse Blockade im Gehirn einmal überwunden hatte, ging es ganz schnell. Marschieren oder sterben, das ist die einzige Alternative. So einfach ist das. Es geht hier nicht um das Überleben des physisch Stärksten; das war mein Denkfehler, als ich mich hierauf eingelassen habe. Wenn es nämlich darum ginge, hätte ich eine faire Chance. Aber es gibt ja körplich schwache Männer, die plötzlich ihren Wagen heben können, wenn ihre Frau darunter eingeklemmt liegt. Es ist das Gehirn, Garraty!« McVries' Stimme war zu einem heiseren Flüstern gesunken. »Es ist nicht der Mensch oder Gott oder so was, es ist etwas, im Gehirn.«
Ein Ziegenmelker stieß seinen einsamen Ruf in die Nacht. Der Bodennebel hob sich allmählich.
»Einige von diesen Kerlen werden noch weiterlaufen, wenn alle Gesetze der Biochemie und der körperlichen Behinderung schon längst ad absurdum geführt worden sind. Letztes Jahr ist einer dabeigewesen, der zwei Meilen im VierMeilen-pro-Stunde-Tempo auf der Straße entlanggekrochen ist, weil er in beiden Füßen einen Krampf hatte. Hast du das gelesen? Sieh dir Olson an. Er ist völlig fertig, aber er läuft weiter. Oder dieser verdammte Barkovitch, der auf einer hohen Oktanzahl von Haß läuft. Er rennt immer weiter und sieht dabei so frisch aus wie eine Butterblume. Ich glaube nicht, daß ich das fertigkriege. Ich bin noch nicht müde - jedenfalls noch nicht so richtig -, aber ich werde es sein.« Die Narbe leuchtete weiß in seinem hageren Gesicht, als er düster vor sich hin in die Dunkelheit starrte. »Ich glaube, wenn ich müde genug bin, .werde ich mich einfach auf die Straße setzen.«
Garraty schwieg, aber er war besorgt. Sehr besorgt.
»Aber diesen Barkovitch werde ich noch überleben!« fuhr McVries mehr zu sich gewandt fort. »Bei Gott, das werde ich wohl noch schaffen!«
Garraty sah auf seine Uhr, es war halb zwölf. Sie überquerten eine verlassene Kreuzung, an der ein verschlafener Con-stable in einem Polizeiwagen wartete. Der Verkehr, den er hier abriegeln sollte, war nicht vorhanden. Als sie aus dem hellen Lichtkreis der Straßenlampe traten, fiel die Dunkelheit wieder wie ein schwarzer Kohlensack über sie.
»Wir könnten uns jetzt in den Wald schleichen, und sie würden uns niemals finden«, sagte Garraty nachdenklich.
»Versuch's mal«, erwiderte Olson spöttisch. »Die haben Infrarotgläser und gut vierzig Arten von anderen Aufzeichnungsgeräten einschließlich hochsensibler Mikrofone. Sie hören alles, was wir hier sagen, und können sogar deinen Herzschlag aufnehmen. Sie können dich sehen, als stündest du im vollen Tageslicht, Ray!«
Als ob er bestätigt werden sollte, wurde ein Junge hinter ihnen zum zweitenmal verwarnt.
»Du kannst einem den ganzen Spaß am Leben verderben«, sagte Baker leise. Sein leichter Südstaatenakzent wirkte auf einmal fremdartig und fehl am Platz.
McVries war weggegangen. Die Dunkelheit schien sie alle voneinander zu isolieren, und Garraty empfand plötzlich ein intensives Gefühl der Einsamkeit. Jedesmal, wenn im Unterholz des Waldes, durch den sie gerade gingen, Zweige knackten, hörte er kurze, erschreckte Rufe und scharfe Atemzüge. Amüsiert stellte er fest, daß eine Nachtwanderung durch die Wälder von Maine für die Stadtjungen wohl kein Zuckerschlecken sei. Zu ihrer Linken stieß eine Nachteule ihren unheimlichen Schrei aus. Auf der anderen Seite raschelte etwas, blieb einen Moment still, raschelte wieder, blieb nochmals still und brach dann krachend durchs Unterholz zu einem weniger bevölkerten Teil des Waldes. Und wieder hörte er nervöse Rufe: »Was war das?«
Makrelenförmige Frühlingswolken jagten über den Nachthimmel. Sie versprachen mehr Regen. Garraty schlug den Kragen seiner Jacke hoch und lauschte auf den Klang seiner Schritte auf dem Asphalt. Es gab da einen Trick, eine subtile, geistige Anpassung, so wie man im Dunkeln besser sehen konnte, wenn man sich eine Weile darin aufgehalten hatte. Am Vormittag hatte er das Geräusch seiner eigenen Schritte noch nicht heraushören können; er war im
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