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Todesmarsch

Titel: Todesmarsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Getrappel von neunundneunzig anderen Fußpaaren untergegangen, vom Brummen des Panzerfahrzeugs ganz zu schweigen. Aber jetzt hörte er ihn ohne Schwierigkeiten, seinen eigenen, ganz besonderen Schritt und die Art, wie sein linker Fuß ab und zu über den Boden schleifte. Er hallte fast so laut in seinen Ohren wie der Schlag seines Herzens, ein vitaler Rhythmus von Leben und Tod.
    Seine Augen fühlten sich rauh und trocken an und lagen wie eingesperrt in ihren tiefen Höhlen. Die Lider waren sehr schwer. Seine gesamte Energie war offenbar durch einen Abfluß in seiner Körpermitte weggeflossen. Mit gleichmäßiger Monotonie wurden immer wieder Warnungen ausgeteilt, aber niemand wurde erschossen. Barkovitch hielt endlich seine Klappe, und Stebbins war wieder zu einem Gespenst geworden. Er war da hinten am Ende der Gruppe nicht einmal mehr zu sehen.
    Die Zeiger seiner Uhr wanderten auf zwanzig vor zwölf.
    Auf zur Geisterstunde, dachte er, wenn die Gräber sich gähnend öffnen und ihre modernden Toten herauslassen. Wenn alle braven kleinen Jungen schon längst im Bett liegen und schlafen, wenn Männer und Frauen ihre fleischliche Kissenschlacht für diese Nacht aufgegeben haben, wenn die Fahrgäste unbequem im Greyhoundbus nach New York vor sich hindösen, wenn Glenn Miller ununterbrochen im Radio dudelt und die Barkellner langsam daran denken, die Hocker auf die Theke zu stellen, wenn...
    Jans Gesicht tauchte wieder vor ihm auf. Er stellte sich wieder vor, wie er sie vor einem halben Jahr zu Weihnachten geküßt hatte. Es war unter dem dämlichen Plastikmistelzweig gewesen, den seine Mutter jedes Jahr an der dicken Kugel der Küchenlampe aufhängte. Dummes Zeug. Sieh mal, wo du gerade stehst. Ihre Lippen hatten überrascht gewirkt, aber sie waren weich und leisteten keinen Widerstand. Ein netter Kuß. Einer, von dem man träumen konnte. Sein erster echter Kuß. Er hatte es noch einmal versucht, als er sie nach Hause brachte. Sie hatten in ihrer Auffahrt gestanden, im grauen, sanft fallenden Weihnachtsschnee. Da war es mehr als nur ein netter Kuß gewesen. Er hatte seine Arme um ihre Taille geschlungen, und sie hatte seinen Hals umarmt. Sie hatte die Augen geschlossen, er hatte geschielt, und er hatte ihre weichen, schwellenden Brüste - natürlich in den dicken Wintermantel eingehüllt - an seinem Brustkorb gespürt. Dort hätte er ihr fast gesagt, daß er sie liebe, aber nein... Das wäre übereilt gewesen.
    Danach hatten sie sich gegenseitig unterrichtet. Sie hatte ihm beigebracht, daß Bücher manchmal dazu da wären, gelesen und dann wieder weggestellt zu werden, und daß man nicht unbedingt alle studieren müßte. Er war ein kleiner Streber, was Jan amüsierte, worüber er sich zuerst geärgert, aber bald darauf die komische Seite daran eingesehen hatte. Er brachte ihr das Stricken bei. Das war eine seltsame Sache in seiner Familie. Ausgerechnet sein Vater hatte es ihn gelehrt, bevor die Soldaten ihn geholt hatten. Und sein Vater hatte es wiederum von seinem Großvater gelernt. Es war so eine Art männliche Tradition im Garratyklan. Jan war von den Mustern durch das Zunehmen und Abnehmen ganz begeistert gewesen und hatte ihn ziemlich bald überflügelt. Von seinen mühsam angefertigten Schals und Handschuhen war sie schnell zu Pullovern mit Zopfmustern und schließlich sogar zum Häkeln und Sticken von Spitzendeckchen aufgestiegen, aber das hatte sie, sobald sie die Kunst einmal beherrschte, als lächerlich wieder fallengelassen.
    Er hatte ihr auch das Tanzen beigebracht, Rumba und ChaCha-Cha, Fähigkeiten, die er sich an den endlosen Samstagvormittagen in Mrs. Amelia Dorgens Schule für moderne Tänze erworben hatte. Das war eine Idee seiner Mutter gewesen, und er hatte sich selten so heftig gegen etwas widersetzt. Gott sei Dank, hatte sie nicht nachgegeben.
    Er dachte an das Spiel von Licht und Schatten auf Jans ovalem, nahezu vollkommenen Gesicht, an ihren beschwingten Gang, den melodiösen Klang ihrer Stimme, den begehrenswerten leichten Schwung ihrer Hüften, und plötzlich fragte er sich erschrocken, was er eigentlich hier machte, warum er bloß diese entsetzlich dunkle Straße entlanglief. Er wollte bei ihr sein, wollte alles noch einmal von vorn machen, aber diesmal anders. Als er sich jetzt das tief gebräunte Gesicht des Majors vorstellte, den graumelierten Bart und die Spiegelgläser seiner Sonnenbrille, erfüllte ihn ein so tiefer Schrecken, daß seine Beine auf einmal gummiweich wurden. Warum bin ich

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