Todesmarsch
hier? fragte er sich verzweifelt, und da keine Antwort kam, fragte er es gleich noch einmal: Warum bin - Die Gewehre krachten in der Dunkelheit, und gleich darauf hörte er das unverkennbare, mehlsackartige Plumpsen eines leblosen Körpers auf den Asphalt. Wieder packte ihn die furchtbare, die Kehle zuschnürende Angst, die ihn bei-nahe dazu trieb, blind loszurennen, im Gebüsch unterzutauchen und so lange zu laufen, bis er Jan gefunden hatte und sich bei ihr in Sicherheit wußte.
McVries hatte Barkovitch, an dem er sich immer wieder aufrichtete, er wollte sich auf Jan konzentrieren. Ja, er würde zu Jan laufen. Sie reservierten Plätze in den ersten Reihen für die Verwandten und Freunde der Geher; also würde er sie zu sehen bekommen. Da fiel ihm wieder das andere Mädchen ein, das er geküßt hatte, und er schämte sich ein bißchen.
Woher willst du wissen, ob du es schaffen wirst? Ein Krampf, Blasen, Schürfwunden oder Nasenbluten, die einfach nicht aufhören zu bluten, ein Berg, der einfach zu lang und zu hoch sein wird - wie willst du wissen, daß du es schaffen wirst?
Ich schaffe es. Ich werde es schaffen.
»Ich gratuliere«, sagte McVries an seiner Schulter, und er fuhr erschrocken zusammen.
»Ha?«
»Es ist Mitternacht. Wir leben, um einen neuen Tag in Angriff zu nehmen, Garraty!«
»Und noch viele weitere«, fügte Abraham hinzu. »Ich jedenfalls. Nicht, daß ich es euch mißgönne, versteht mich richtig.«
»Und noch einhundertfünf Meilen bis Oldtown, falls das jemanden interessiert«, warf Olson müde ein.
»Wen interessiert schon Oldtown?« rief McVries fröhlich. »Schon mal dagewesen, Garraty?«
»Nein.«
»Und was ist mit Augusta? Himmel, ich dachte immer, das liegt irgendwo in Georgia.«
»Ja, in Augusta bin ich gewesen. Es ist die Staatshauptstadt.«
»Kreisstadt«, korrigierte Abraham.
»Und es gibt dort die Gouverneursvilla, ein paarmal Kreisverkehr, ein paar Kinos.«
»So was gibt's in Maine?« unterbrach McVries.
»Na ja, es ist eben eine kleine Hauptstadt - in Ordnung?« antwortete Garraty lächelnd.
»Wartet nur, bis wir nach Boston kommen«, prahlte McVries, und einige stöhnten.
Vorn ertönten Schreie, Jubelrufe, Pfiffe, und Garraty lauschte beunruhigt, ob er seinen Namen darunter hörte. Eine halbe Meile weiter stand ein halbverfallenes Bauernhaus, aber man hatte irgendwo einen Scheinwerfer an eine Batterie angeschlossen, der ein großes Schild an der Hausfront, dessen Buchstaben aus Kiefernzweigen geformt waren, beleuchtete:
»He, Garraty, wo sind deine Eltern?« rief jemand spottend.
»Zu Hause und machen Kinder«, rief Garraty verlegen zu-rück.Jis bestand kein Zweifel, in Maine genoß er einen Heimvorteil, aber er empfand die Schilder und das Gejubel und die Sticheleien der ändern lahgsam als etwas peinlich. Innerhalb der letzten fünfzehn Stunden war ihm - unter anderem -klargeworden, daß er gar nicht so scharf darauf war, im Rampenlicht zu stehen. Im Gegenteil: der Gedanke, daß ihm Millionen Menschen die Daumen drückten und Wetten auf ihn abschlössen - zwölf zu eins hatte der Straßenbauarbeiter gesagt, war das hoch oder niedrig -, jagte ihm ein wenig Angst ein.
»Man sollte doch annehmen, daß sie wenigstens ein paar dicke, saftige Eltern hier liegengelassen haben«, sagte Davidson.
»Stänkerei vom Lehrer-Eltern-Ausschuß, was?« rief Abraham.
Die Neckerei war halbherzig und dauerte nicht lange. Die Straße würgte bald jede Art von Scherzen ab. Sie überquerten wieder eine Brücke, diesmal eine aus Zement, die einen breiten Fluß überspannte. Das Wasser floß wie schwarze Seide unter ihnen dahin. Ein paar Grillen zirpten verhalten, und um Viertel nach zwölf setzte ein kühler, leichter Regen ein.
Weiter vorn fing jemand an, auf seiner Mundharmonika zu spielen. Es dauerte nicht lange - Hinweis 6: Atem sparen -, aber für den Augenblick, den es anhielt, war es sehr schön. Es klang ein bißchen nach Old Black Joe. Unten im Kornfeld, dachte Garraty, hör den traurigen Klang, die Schwarzen weinen alle, denn Ewing liegt in der kalten, kalten Erde...
Nein, das war nicht Old Black Joe; dieses Lied war einer der Klassiker von dem Rassisten Stephen Foster. Guter alter Stephen Foster. Hat sich totgesoffen. Poe ebenfalls, wie man so hört. Poe, der Nekrophile, der seine vierzehn Jahre alte Kusine geheiratet hatte. Das machte ihn auch noch zum Päd-ophilen. Durch und durch verkommene Subjekte, die beiden. Wenn sie nur lange genug gelebt hätten, um den Marsch
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