Todesmelodie: Ein neuer Fall für Julia Durant (Knaur TB) (German Edition)
Bruder?«, entfuhr es ihnen wie im Chor, und beinahe wäre Frank das Telefon aus der Hand gefallen.
Samstag, 8.23 Uhr
S abine Kaufmann hatte den Kopf in den Händen vergraben und verharrte seit einigen Augenblicken in dieser Position. Das Büro war leer, niemand drohte sie in den nächsten Minuten zu stören, und die Kommissarin versuchte, sich zu sammeln. Doch es gelang ihr nicht, ihre Gedanken zu verscheuchen, gnadenlos drehte sich ein Bilderkarussell hinter den geschlossenen Augenlidern, immer schneller, immer quälender. Sie dachte an den gestrigen Abend, die viel zu kurze Zeitspanne zwischen dem Dienstbesuch im Riederwald und dem vernichtenden Handyanruf, der den angenehmen Sommerabend erbarmungslos beendet hatte.
Kaum zehn Minuten nachdem Kaufmann sich von Schreck verabschiedet hatte und mit eiligen Schritten zu ihrem Wagen gelaufen war, hatte sie das Auto bereits wieder geparkt. Noch immer in Bad Vilbel, jedoch weiter oben, im Stadtteil Heilsberg. Sie war an grauen, verbeulten Müllcontainern vorbeigeeilt, dahinter standen graue, zweistöckige Reihenhäuser, in Kastenbauweise und mit Flachdach, am Zugangsweg verriet ein blaues Straßenschild, dass es sich um die Alte Frankfurter Straße handelte. Es traf Sabine Kaufmann jedes Mal aufs Neue, wenn sie den mit Sperrmüll zugestellten Balkon erblickte, den nicht eine einzige Pflanze zierte. Ein unmissverständliches Zeichen dafür, dass es ihrer Mutter überhaupt nicht gutging. Sooft die Kommissarin es vermieden hatte, von sich aus die beklemmende Atmosphäre der engen, tristen Wohnung aufzusuchen, so häufig waren es diese Anrufe, die sie stets zum unpassendsten Moment aus der Fassung brachten.
»Warum nimmst du denn deine Medikamente nicht?« Wie oft hatte sie diese verzweifelte Frage schon gestellt. Doch Sabine Kaufmann kannte die Antwort selbst. Sie hatte sich mit Alina Cornelius besprochen, streng vertraulich natürlich, und diese hatte ihr erläutert, wie das Leben mit Schizophrenie zuweilen aussah.
»Geht es einem gut, denkt man, man braucht die Medikamente nicht. Setzt man sie ab, sinkt der Spiegel, und der nächste Schub wird umso schlimmer. Sind die Symptome dann da, weigert man sich, weil man überzeugt ist, dass man selbst normal ist und alle anderen krank sind.«
»Ganz schön … irre«, hatte Sabine dazu gesagt, und Alina hatte gelächelt und gemeint: »In der Tat, das trifft den Nagel ziemlich präzise auf den Kopf.«
Die Wohnung war abgedunkelt gewesen, und von Armin, dem obskuren Lebensgefährten, mit dem sich ihre Mutter seit einigen Jahren die Miete teilte, fehlte jede Spur. Wie so oft, wenn es ihr schlechtgeht, dachte Sabine zerknirscht. Doch Armin, so viel wusste sie, hatte seine eigenen Probleme. Alkohol, Drogen, hin und wieder ein Totalabsturz – Gleich und Gleich gesellt sich eben gern. Sabines erster Schritt war es, zu dem großen Wohnzimmerfenster zu eilen, den Rollladen hochzuziehen und die beiden Flügel weit aufzureißen. Mutter hatte sich offenbar seit Tagen nicht nach draußen begeben, vor der Badezimmertür stapelte sich ungewaschene Wäsche, und ein Geruch von Schweiß und Urin hing in der Luft. In der Küche schimmelte Toastbrot, und es roch nach saurer Milch, außerdem flogen überall leere Weinflaschen herum, bestimmt ein Dutzend. Wenn es nicht die Krankheit war, dann würde der Alkohol ihre Mutter umbringen …
Wie so häufig in den vergangenen drei Jahren hatte Sabine ihre Mutter in den Arm genommen, sie gehalten, ihre Wäsche in Ordnung gebracht und etwas zu essen bestellt. Einen Notarzt zu rufen hatte sie sich längst abgewöhnt. Sie hatte die Notfallrufnummer von einer regionalen Sozialeinrichtung, das Personal dort war kompetent und freundlich. Jederzeit, so war es vereinbart, konnte Mutter sich dorthin wenden. Doch es war stets nur Sabine, die dort anrief, und die Botschaft war immer wieder eindeutig: »Solange Ihre Mutter sich nicht selbst oder andere gefährdet, können wir sie nicht zwingen, sich helfen zu lassen.«
Sabine Kaufmann atmete schwer, sie hatte kaum geschlafen und wusste, dass sie beim nächsten Anruf von Schreck eine gute Erklärung für ihr plötzliches Verschwinden parat haben musste. Aber nicht heute, dachte sie und seufzte, im Gegensatz zu ihr hatte er frei. Und ans Handy würde sie nur gehen, wenn es dienstlich war … oder Mutter.
Als hätte sie es kommen sehen, läutete es auch schon, und sie zuckte zusammen. Bitte nicht, dachte sie, doch es war der Festanschluss, und das Display
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