Todesmelodie: Ein neuer Fall für Julia Durant (Knaur TB) (German Edition)
amüsiert hochgezogenen Mundwinkeln. Jetzt hast du ihn dort erwischt, wo er Fachmann ist, dachte er. Manchmal brauchte es eben den richtigen Impuls, um jemanden aus der Reserve zu locken.
Der Wachmann kritzelte vier Ziffern auf einen gelben Notizzettel, 9-1-7-3.
»Hier, bitte. Ein Klassiker«, grinste er.
»Wieso?«
»Na, stellen Sie sich doch mal ein Tastenfeld vor. 9-1-7-3, das sind die Ziffern in den vier Ecken. Ergibt ein X, wenn man sie in der Reihenfolge eintippt, kleiner Insider unter Kollegen. 8-2-4-6 ist das Gegenstück, ein Plus, Sie glauben gar nicht, wie viele Systeme diese Symbole verwenden.«
»Kann man sich zumindest gut merken«, lächelte Kullmer anerkennend, wobei er sich eingestehen musste, dass ihm die vermeintlich tiefere Bedeutung von X und Plus für »zu« und »auf« wohl niemals aufgefallen wäre.
»Stimmt«, nickte der Wachmann, »aber wenn jeder sie verwendet, dann ist das so ziemlich das Dümmste, was man machen kann. Da kann das System noch so teuer sein und die besten Log-Dateien anlegen. Ich meine, beim Schließcode ist es ja nicht so schlimm, und den anderen hat der alte Bertram sofort geändert.«
»Alter Haudegen, nicht wahr?«, kommentierte Kullmer.
»Ja, dem macht so schnell keiner was vor.«
Sie verabschiedeten sich, und der Kommissar kehrte wieder zur Villa zurück.
Im oberen Geschoss stand Sabine Kaufmann über die Schublade einer dunklen Kommode gebeugt, ein altes Möbelstück im Kolonialstil, zweifelsohne keine jener billigen Repliken, die man heutzutage im Onlineversand erwerben konnte. Hinter der Doppeltür befanden sich T-Shirts, ein Kapuzenpulli und zwei Bluejeans, in den darüberliegenden Schubfächern Unterwäsche, auf der einen Seite, paarweise ineinander gestülpt, alles von weißen Tennissocken bis hin zu dunklen Kaschmirstrümpfen, im rechten Fach Boxershorts und Slips.
Ein ordentlicher junger Mann, dachte Kaufmann anerkennend, denn ebenso wie die Strümpfe waren auch die T-Shirts und Unterhosen akkurat einsortiert. Nun, es gab bestimmt Hauspersonal, vielleicht wurde dem jungen Mann diese Arbeit ja auch abgenommen. Dabei wäre es ihr sehr viel lieber gewesen, anstatt einer Kommode voll sauberer Wäsche eine Spur zu finden, einen Hinweis, eben irgendetwas, was ihr verriet, wo sich der vermisste Alexander Bertram aufhielt. Sanft schob sie die Schublade zurück, tastete dabei aus einem Impuls heraus und ohne große Erwartung über den Unterboden, doch außer einem rauhen Nagel spürte sie nichts.
»Also weiter«, seufzte sie leise und wandte sich dem Kleiderschrank zu. Ein ganz schönes Monstrum, grübelte die Kommissarin mit zusammengekniffenen Augen und kratzte sich am Kinn. Irgendwie wirkte alles hier oben so unverhältnismäßig, es gab kaum persönliche Gegenstände, okay, neben dem Bett lagen zwei Bücher, aber ansonsten glich der Raum mehr einem Hotelzimmer denn einem seit Jahren bewohnten Raum. Der Wandkalender war noch von 2009, es gab keine Papiere, ein einziges rotstichiges Foto, das offenbar die Eltern Bertram mit ihrem etwa fünfjährigen Sohn zeigte, das Bett war ordentlich gemacht, und es lagen weder Schuhe noch andere Kleidungsstücke herum. Kaufmann erinnerte sich, im Bad eine silberne Armbanduhr gesehen zu haben, aber auch dort war ansonsten alles picobello.
Die schwere Holztür knarrte ein wenig, jedoch weitaus leiser, als Sabine es erwartet hätte. Der Schrank war massiv, aus dem vorletzten Jahrhundert, wie sie schätzte, und roch ein wenig nach Mottenpulver. Fein säuberlich auf Kleiderbügeln hingen links einige Sakkos, in den Fächern daneben lagen Handschuhe, Schals, Tücher und zwei beige Baseball-Kappen. Rechts ein Mantel und eine helle Jacke, in der Mitte außerdem ein dunkler Dreiteiler, der elegant und teuer wirkte. Sabine hatte eher das Gefühl, in einer Kleiderboutique als im Wohnbereich eines jungen Mannes zu stehen. Sie wollte den Schrank gerade wieder schließen, da vernahm sie ein Geräusch. Unmittelbar darauf erklang die Stimme Kullmers durch das Haus.
»Sabine? Bin wieder da!«
Eine Viertelstunde später schaltete Kullmer das Licht in Alexander Bertrams Zimmer aus. Gemeinsam mit seiner Kollegin hatte er alles abgesucht, sie hatten die Matratze angehoben, unter den Schrank und hinter den Spiegel geschaut, ja sogar das Familienfoto aus dem Rahmen gezogen. Im Badezimmerschrank hatten sie geprüft, ob es dort Medikamente gab, mit gerümpfter Nase hatten sie außerdem den kleinen Mülleimer untersucht, in dem sich neben
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