Todesmelodie
tatsächlich töten können! Sie hätte sie von der Klippe stoßen können, als sie miteinander allein gewesen waren, und dann behaupten können, Sharon sei abgestürzt, es sei ein Unfall gewesen. Es wäre kinderleicht gewesen!
Warum stellt Chad mir diese Frage? überlegte sie.
»Wenn ich sie einfach umgebracht hätte, hätte sie nicht leiden müssen«, erklärte sie schließlich.
»Du willst doch gar nicht, daß sie leidet«, meinte Chad.
»Doch, das tue ich.«
»Du magst Sharon immer noch«, sagte Chad überzeugt.
»Woher willst du das wissen?«
»Ich kenne dich.« Chad blickte in den hinteren Teil der Höhle. Ihre Stimmen hatten ein schwaches Echo, sogar obwohl sie leise sprachen. »Ich wußte auch, daß ich dich finden würde, wenn ich hier entlangginge.«
»Du meinst, du dachtest, daß du meine Leiche finden würdest?«
Er senkte den Kopf. »Ja.«
Sie berührte mit der linken Hand seine Schulter. Ihre rechte war wieder gefühllos geworden, aber ihr Ellenbogen schmerzte noch immer. Ihr Blut war mittlerweile eingetrocknet, und es war ein schlimmer Anblick!
»Es tut mir leid«, sagte sie leise. »Ich wollte es dir wirklich sagen!«
»Ich verstehe schon«, wiederholte er.
»Paul weiß, was ich tue. Deshalb hat er sich auch am Seil hinuntergelassen – er mußte mein Seil losmachen. Eigentlich müßte ich jetzt schon am See sein – ich hab’ dort einen Wagen stehen. Mit deiner Hilfe könnte ich es noch schaffen, Chad! Ich verlasse einfach das Land.«
»Nein.«
»Bitte, Chad! Für mich gibt es kein Zurück. Sharon verdient was ich ihr antue. Du mußt mir helfen!«
»Nein!« Er hob jetzt den Kopf und starrte sie an. »Der Wagen tut es sowieso nicht.«
»Wie bitte?«
»Der Tank ist leer.«
Ann zog ihre Hand zurück, und ihre Miene wurde ärgerlich. »Wovon redest du?«
»Ich wußte nicht, ob ich dich erwischen würde, bevor du beim Wagen ankamst«, erwiderte er.
Es war kalt in der Höhle, denn eine Kerze konnte nicht viel Wärme spenden, und diese war noch dazu sehr klein – aber die Kälte, die Ann jetzt fühlte, ging viel tiefer als alles, was von außen kam.
»Wie hast du von dem Wagen erfahren?« fragte sie.
»Weil ich dich kenne, Ann. Wir sind zusammen aufgewachsen, wir denken das gleiche, wir sind fast wie ein und dieselbe Person. Wir waren füreinander bestimmt.«
Er zuckte bitter mit den Schultern. »Aber dann mußte mein Bruder daherkommen!«
»Du wußtest über meinen Plan Bescheid?«
»Ja.«
»Hat Paul dir davon erzählt?«
»Nein; ich wußte es eher als Paul.«
»Das ist kaum möglich! Wie hast du davon erfahren?«
»Ich kannte deinen Plan sogar schon vor dir… Ich hab’ ihn dir eingegeben, Ann.«
Ann erstarrte, und es war, als sei ihr Herz stehengeblieben. Sie konnte nur mühsam atmen, brachte kein Wort heraus. Aber Chad schien auch gar keine Antwort zu erwarten. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten; er saß genau vor ihr, aber ihr schien, als betrachte er sie aus großer Entfernung, von einem Ort aus, an den er sich zurückgezogen hatte. Die Trauer in seinem Blick war jedoch echt.
»Deine Gedanken sind meine Gedanken«, sagte er. »Das ist schon immer so gewesen. Erinnerst du dich nicht mehr an unsere erste Begegnung? Jerry hat uns miteinander bekannt gemacht; ich kam ins Haus, und du hast gelächelt, und ich hab’ zurückgelächelt. Wir haben beide im selben Augenblick angefangen zu lächeln.« Ein Anflug des vertrauten Strahlens glitt über sein Gesicht. »Da hab’ ich gewußt, daß es so sein sollte.«
»Das was sein sollte?« fragte Ann, aber sie wollte es nicht wirklich wissen.
»Na, das mit uns beiden!«
»Es gibt kein uns!«
Chad wurde unvermittelt ernst. »Du verstehst nicht!«
»Du bist mein Freund, Chad!«
Seine Miene verfinsterte sich. »Ist das alles?«
»Ich dachte, das sei genug.«
Er wandte sich ab und sog tief die Luft ein. Er schien nicht eigentlich wütend auf sie zu sein, aber er benahm sich sehr eigenartig, und Ann war zutiefst verwirrt. Chad hatte sie nicht auf ihren Plan gebracht – er hatte nicht ein einziges Mal mit ihr darüber gesprochen. Paul mußte ihm das mit dem Wagen erzählt haben, es war die einzig logische Erklärung. Ann beschloß, so schnell wie möglich aufzubrechen, denn hier ging irgend etwas sehr Seltsames vor.
»Ich weiß, ich hätte lieber nichts sagen sollen«, meinte Chad schließlich. »Das hab’ ich die ganze Zeit über gefühlt. Ich kann zwar deine Gedanken lesen, du meine aber nicht. Du kannst auch
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