Todesmelodie
Du hast ihn einfach so getötet?«
»Er hatte es verdient!«
Ann schluckte schwer, und sie fühlte tief in ihrem Innern einen Schmerz, der weit über alles hinausging, was ihr Körper seit ihrem Sprung mitgemacht hatte. Einfach so, hatte er gesagt. Peng, du bist tot.
»Und wie hast du das mit den Fingerabdrücken gemacht?« fragte sie flüsternd.
»Wir waren eine Woche vorher auf der Jagd gewesen, und seine Abdrücke waren auf meinen Patronenhülsen. Das war auch wichtig, weil man keine Fingerabdrücke auf Hülsen nachmachen kann, die schon abgefeuert wurden. Bei Selbstmord prüft die Polizei immer, ob die Abdrücke unter den Pulverspuren sind oder darüber. Aber auf der Pistole war es einfacher: Ich mußte sie ihm bloß in die Hände legen, als er tot war.«
»Und der Brief?«
»Jerry hat ihn geschrieben. Es war eigentlich der Anfang eines Songs, an dem er gearbeitet hat.«
»Über Sharon?«
»Ach, Jerry war gar nicht so sehr in Sharon verliebt!«
Ann hustete schwach.
»Du wolltest, daß ich sie haßte! Warum, um Himmels willen?«
»Du wolltest sie doch auch hassen!«
Ann begann zu zittern, als ihr das volle Ausmaß ihres Irrtums bewußt wurde. Er hatte recht, und er hatte eine Frage beantwortet, die sie sich selbst von Anfang an gestellt hatte. Würde ihr Haß verschwinden, wenn Sharon verschwand? Die Antwort hieß nein. Ihr Haß hatte überhaupt nichts mit Sharon zu tun. Es war ganz allein ihr eigener Haß, und sie allein entschied über die Richtung, in die er floß.
Chad hat meinen Bruder umgebracht!
Sie haßte ihn – Himmel, und wie sie ihn haßte! Aber er hatte ihre Frage noch nicht ganz beantwortet.
»Aber warum wolltest du, daß ich Sharon die Schuld gebe? Warum ausgerechnet ihr?« wollte sie wissen.
»Du bist seit letztem August mit Paul zusammen«, begann er zu erklären. »Schon damals habe ich gesehen, daß es zwischen euch ziemlich ernst war.«
Ann schnaubte verächtlich. »Du warst eifersüchtig!«
Jetzt klang seine Stimme ärgerlich. »Wundert dich das? Ich kannte dich schon seit Jahren, ich hatte mich um dein Haus und um dich gekümmert und ich hätte alles für dich getan. Dann kommt Paul daher, und du hast nichts Besseres zu tun, als ihm sofort in die Arme zu fallen, diesem Schnorrer! Er hat in seinem ganzen Leben nicht einen einzigen Tag gearbeitet, und an dir liegt ihm gar nichts! Er will nur dein Geld.«
»Du lügst!«
»Aber er hat es mir selbst gesagt! Bevor er herzog, hat er mich gefragt, wieviel du hast. Dein Geld war der Grund dafür, daß er hergekommen ist.«
»Aber da kannte er mich noch nicht!«
»Er kennt dich aber jetzt und er hat nicht versucht, dich davon abzuhalten, von dieser Klippe zu springen. Du hättest dabei sterben können, und er wußte es.«
Das brachte sie zum Schweigen; nicht daß sie ihm glaubte – so einfach war sie nicht zu überzeugen – oder doch? Worauf wollte er hinaus?
»Was hat Sharon nun mit all dem zu tun?« erkundigte sie sich.
»Du mußtest Sharon hassen, damit du jetzt, unter diesen Umständen, mit mir zusammen hier bist. Du siehst überrascht aus – das wundert mich! Wer hat dir denn das Buch zu lesen gegeben? Wer hat dir das Bergsteigen beigebracht, damit du deine Höhenangst verlorst? Wer hat dir von den beiden Männern erzählt, die in den Fluß gefallen und verschwunden sind? Wer hat diesen Ausflug geplant? Du denkst vielleicht, du seist es gewesen, aber in Wirklichkeit war ich es. Im ganzen letzten Jahr hab’ ich dir tausend Hinweise gegeben, wie du dich an Sharon rächen könntest. Du hast sie auch gehört, dein Unterbewußtsein hat sie gespeichert, aber du hast nicht erkennen wollen, daß sie von mir kamen. Dein ganzer schlauer Plan war meiner, meiner allein! Ich hab’ dich darauf gebracht. Siehst du jetzt, wie gut ich dich kenne?«
»Warum tust du das alles?« fragte sie leise.
Während er ihr erklärt hatte, wie er sie manipuliert hatte, war er stolz, fast angeberisch gewesen, aber jetzt wirkte er verlegen. Wieder wandte er sich ab und blickte in den hinteren Teil der Höhle, in dem irgend etwas seine Aufmerksamkeit zu fesseln schien. Der kalte Luftzug, der die Kerze flackern ließ, kam von dort, aber Ann interessierte das wenig. Die tanzende Flamme produzierte noch mehr heißes Wachs, das Chads Augen fest verschließen würde.
Ihre linke Hand hing genau neben dem Stein, auf dem die Kerze stand, und unglücklicherweise war es ihre verletzte Rechte, die dem Messer am nächsten war. Ann hatte nur eine Sekunde Zeit
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