Todesmelodie
und er antwortete mit einem Stöhnen.
»Weißt du, Chad«, sagte sie verächtlich, »ich hätte dich niemals geküßt, nicht mal wenn du der letzte Mann auf der ganzen Erde gewesen wärst!«
Ann wankte auf den Ausgang der Höhle zu. Sie mußte irgendwie zu dem Punkt zurück, wo sie nach ihrem Sprung gelandet war, mußte mit Sharon und Paul sprechen und zum nächsten Polizeirevier fahren!
Draußen stellte sie fest, daß es längst nicht mehr so dunkel war wie vorher. Sie hatte Paul nicht ganz die Wahrheit gesagt, als sie ihm erzählt hatte, daß es eine mondlose Nacht sein würde. Der Mond ging nur sehr spät auf. Ein milchig helles Licht begann sich am östlichen Himmel zu zeigen, und sie war glücklich darüber, denn jetzt würde sie wenigstens sehen können, wohin sie ging.
Die Höhle lag hoch oben im Fels, in einer zerklüfteten Wand, die zum Fluß hin fast senkrecht abfiel. Der Weg hinunter war steil, aber immerhin gab es einen Weg – zwar nicht zu vergleichen mit den glatten Stufen, die zur Brücke hinaufführten, aber er erfüllte seinen Zweck.
Chad hatte sie über die Brücke getragen, wie sie jetzt feststellte, und noch ein ganzes Stück darüber hinaus. Sie befand sich jetzt auf dem südlichen Ufer, was sowohl gut als auch schlecht war: Es war schlecht weil sie nicht wußte, in welcher Richtung die Brücke lag, nach links oder rechts, und sie würde sie überqueren müssen, wenn sie irgendeine Hoffnung behalten wollte, die andern in dieser Nacht noch zu treffen. Und es war gleichzeitig gut weil die Brücke durch alte Seile zusammengehalten wurde, die sie mit ihrem scharfen Messer würde durchschneiden können, um sich den Rücken freizuhalten.
Ann warf einen Blick über die Schulter zurück, bevor sie sich an den Abstieg machte; aber natürlich konnte sie Chad nicht sehen, sah nur ein kleines Stück in die Höhle hinein. Aber sie spürte einen Anflug von schlechtem Gewissen, und gleichzeitig stieg Angst in ihr auf. Vielleicht verblutete Chad gerade in dieser Sekunde auf dem harten Steinboden dieser schrecklichen Höhle – oder rappelte er sich eben wieder hoch, entschlossener denn je, sie zu töten? Ann hatte keine Zeit zu verlieren; atemlos hastete sie weiter.
Sie war noch nicht weit gekommen, als ihre Kräfte sie schon wieder verließen. Ihr Erschöpfungsschlaf in der Höhle hatte ihrem Körper anscheinend nicht genügend Zeit gegeben, ihren Blutvorrat wieder aufzufrischen. Sie hatte wahnsinnige Kopfschmerzen, es fühlte sich an, als würden ihre Schädelknochen von außen zusammengepreßt und ihre Lippen waren trocken und bluteten. Diese Nacht schien wirklich voller Blut zu sein! Fast erwartete sie, der Mond würde blutrot aufgehen… Jetzt kehrte auch ihre Benommenheit zurück – aber ein Gedanke gab ihr Kraft: Die Welt würde erfahren, daß ihr Bruder sich nicht selbst umgebracht hatte!
Der Weg war schmal und feucht – jetzt war sie nicht mehr weit vom Winter Lake entfernt und sie konnte seinen dunklen Umriß zu ihrer Rechten liegen sehen. An dieser Stelle verengte sich der Fluß, und die Gischt der Stromschnellen schlug sich weit oben an den Felswänden nieder. Zweimal rutschte Ann aus und hätte beinahe den direkten Weg nach unten genommen, aber jedesmal rettete im letzten Moment ein griffbereiter Zweig ihr Leben. Sie begann daran zu glauben, daß Gott an ihrem Überleben interessiert war, und begann wieder zu beten, anstatt zu fluchen.
Es war ihre Nähe zum See, aus der Ann schloß, daß Chad sie von der Brücke aus flußabwärts getragen haben mußte – aber obwohl diese Schlußfolgerung nicht ganz unwahrscheinlich war, blieb sie doch eine reine Annahme. Und Ann kam nur entsetzlich langsam voran. Sie hatte keine Zeit für einen Blick über die Schulter, aber jetzt bereute sie tief, daß sie Chad nicht wenigstens eine Verletzung an den Beinen zugefügt und ihn damit daran gehindert hatte, ihr zu folgen. Ihre Angst wuchs im selben Maß, wie ihre Schwäche zunahm. Glücklicherweise schien es nur diesen einen Weg abwärts zu geben, so daß er ihr nirgendwo auflauern konnte.
Endlich hatte Ann das Flußufer erreicht und wandte sich nach Westen, stromaufwärts, zurück zu den andern. Inzwischen war der Mond ganz aufgegangen, und sie hatte Licht genug, um ihre Schritte vorsichtig zu setzen – auch wenn es nicht viel half. Die Steine waren glitschig und lose, so daß Ann beim Gehen kaum Halt fand und ihre Schmerzen und die Erschöpfung sich noch verschlimmerten.
Sie hatte Durst, wagte aber
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