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Todesmelodie

Todesmelodie

Titel: Todesmelodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Pike
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nicht, sich zum Fluß hinunterzubeugen und zu trinken. Sie hatte Angst, daß sie zu schwach sein könnte, um sich wieder aufzurichten, oder daß Chad diesen Moment wählen würde, um zuzuschlagen.
    Je weiter sie lief, desto größer wurde die Gewißheit, daß er ihr auf den Fersen war. Sie konnte seinen Blick spüren, diesen liebeskranken Blick, der nicht mehr von ihr forderte als das Leben ihres Bruders – und ihr eigenes.
    Er kann mich nicht allzuweit getragen haben. Ich muß durchhalten, es kann nicht mehr weit sein!
    Sie sah die Brücke zehn Minuten später. Chad hatte sie ungefähr eineinhalb Kilometer weit getragen! Anscheinend hatte der Blutverlust ein Federgewicht aus ihr gemacht!
    Das Wissen, bald in Sicherheit zu sein, gab ihr die dringend benötigte Energie, so daß sie für die dreißig Meter hinauf auf die Brücke nur drei Minuten brauchte. Ann brachte tatsächlich ein Lächeln zustande, als sie den wackeligen Steg erreicht hatte, der sich über den Fluß spannte. Sie hielt kurz an, um Atem zu schöpfen, und suchte mit ihren Blicken den Weg hinter sich ab, doch von Chad war nichts zu sehen.
    »Ich sag’s ihnen allen, Jerry«, murmelte sie. »Ich werde in jeder verdammten Zeitung eine ganzseitige Anzeige aufgeben!«
    Dann begann sie, die Brücke zu überqueren, die bei jedem ihrer Schritte mitschwang – und diesmal war es keine Halluzination. Ann ließ die Finger über das Tau gleiten, das als Geländer diente, und konnte die zerschlissenen Stellen im Flechtwerk spüren. Es brauchte nur ein paar kräftige Schnitte mit ihrem Messer, und die Brücke würde Vergangenheit sein!
    Als sie gerade das andere Ende erreicht hatte, fühlte Ann sich auf einmal wieder vollkommen erschöpft. Sie ging in die Knie, ihr Oberkörper schlug hart auf felsigem Boden auf, während sie mit den Beinen noch halb auf der Brücke lag. Alles verschwamm vor ihren Augen, und sie zwang sich, ihren Blick auf den Mond zu richten, der jetzt schon ein ganzes Stück über dem Horizont hing. Sie konnte sich nicht erinnern, wann er zum letztenmal Ringe gehabt hatte – oder ein gemeines Grinsen auf dem Gesicht.
    Schneide diese Seile durch, dann kannst du bewußtlos werden, ohne daß es was ausmacht! beschwor sie sich selbst.
    Ann holte tief Luft, hob die linke Hand und begann, sich mit dem Messer am Geländer zu schaffen zu machen. Dafür, daß sie kurz vor dem völligen Zusammenbruch stand, war es gar nicht so schwer – mit jeder Bewegung klafften neue Risse im Tau, und nach einer Minute war es durch. Ann nahm das nächste in Angriff, nachdem sie sich mit dem ganzen Körper auf das sichere Ufer gezogen hatte. Jetzt konnte sie sogar wieder lächeln, und sie hoffte darauf, daß Chad ihr folgte. Was für eine Überraschung würde es für ihn sein, wenn er die Reste der Brücke in den Stromschnellen hängen sah! Und sie konnte die ganze Nacht dasitzen und ihn über den Fluß hinweg auslachen.
    Das Geländer hing an insgesamt acht Tauen, vier an jeder Seite, und Ann schnitt zuerst die an einer Seite durch, bevor sie sich an die andere machte. Doch auf der zweiten Seite war das Arbeiten mühsamer, und sie mußte dreimal zwischendurch aufhören, um sich auszuruhen. Vielleicht wurde die Klinge langsam stumpfer – ihre Gedanken jedenfalls stumpften eindeutig ab. Der Mann im Mond rauchte jetzt eine Zigarre, deren Rauch am Himmel über Anns Kopf hinwegglitt.
    Das sind Wolken, du Dummkopf! Los, schneide weiter! dachte sie wütend.
    Die Brücke fiel genau eine halbe Stunde nach der Geisterstunde, um halb eins, und Ann hielt die Zeit für die Nachwelt fest. Der Aufprall der löcherigen Bretter auf den harten Felsen im Fluß war wie Musik in ihren Ohren. Die Strömung ergriff, was von der Brücke übrig war, und schleuderte es gegen die Felswand am anderen Ufer. Lange würden auch die Taue auf der anderen Seite dieser Kraft nicht standhalten – und vielleicht würde sie sogar später in diesem Sommer Stücke der Brücke finden, wenn sie mit ihrem Segelboot draußen auf dem Winter Lake kreuzte!
    Ann wurde sich klar darüber, daß sie das Land nicht verlassen würde.
    Sie setzte sich entspannt hin, den Rücken gegen einen Felsblock gelehnt, und lachte leise. Für diese Nacht war es genug – sie würde nicht mehr zu den andern zurücklaufen. Aber sie würden sie am nächsten Morgen finden, und wenn nicht die Freunde, dann irgendjemand anders. Sicher würde eine großangelegte Suchaktion nach ihrer Leiche stattfinden, aber statt dessen würde man sie

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